Zeit der Wut
einmal einen Namen, da er für alle immer nur der Kommandant war und es auch bleiben würde. Dennoch hatte er sie in der Hand. Vom Ersten bis zum Letzten. Er wusste, wie er sie mit einer Anspielung auf die altehrwürdige Tradition in Erregung versetzen konnte – die Anspielung auf
the white man’s burden
hatte stolze Ausrufe hervorgerufen. Er wusste, wie er mit einem Witz Spannungen lösen konnte – sie hatten gelacht, als er gesagt hatte, die mittlerweile überkommenen Neokonservativen seien in Frührente geschickt worden. Er wusste, wie man Angst säte – bei der Erwähnung des Dschihad waren sie erschauert. Der Kommandant räusperte sich und begann das Finale seiner Rede einzuleiten.
– Was eint unsere Feinde? Das Bewusstsein, ein entscheidendes Match auszutragen? Das reicht nicht, um ihre Gefährlichkeit zu erklären. Auch die Besten von uns können die Realität genau einschätzen. Dennoch spüre ich, dass sie in diesem Augenblick stärker sind als wir. Wir haben die Pflicht, den chinesischen Kommunismus und den islamischen Fundamentalismus zu bekämpfen, aber … wir können von beiden auch viel lernen. Soll ich Euch in zwei Worten klarmachen, worin der Unterschied besteht? Zwei Begriffe solltet ihr Euch gut merken: Hierarchie und Gehorsam. Das ist das Geheimnis ihres Erfolgs. Das haben die Arbeiter, die wie Sklaven in den Fabriken schuften und sich lieber umbringen lassen würden, als Urlaub zu machen, und die Muslime, die in den Islamschulen wie besessen Koransuren beten, gemeinsam. Sie glauben an die Hierarchie. Sie gehorchen ihren Vorgesetzten. Sie stellen keine Fragen. Sie erheben keine Einwände. Sie identifizieren sich mit ihrem Projekt. Es handelt sich dabei um eine großartige gemeinschaftliche Anstrengung, die wir nicht mehr kultivieren, seitdem der hinterhältige Feind sich in unsere Reihen eingeschlichen hat. Dabei handelt es sich, meine Freunde, um eine fünfte Kolonne mit ungeheurem zerstörerischen Potenzial. Wir müssen den Feind aufstöbern, wo auch immer er sich einnistet, ihn erbarmungslos jagen, ihn zerstören, bevor er uns zerstört. Unser Feind heißt „Kulturrelativismus“ – die verrückte These von der Gleichheit der Kulturen, die mit der schlechtesten Überzeugung einhergeht, nämlich dass alle Menschen gleich wären. Er ist unser größter Feind. Solange wir ihn nicht loswerden, sind wir nicht in der Lage, uns dem Kampf zu widmen, der uns bevorsteht. Wenn wir ihn nicht loswerden, gehen wir unvorbereitet in den Kampf. Und wir werden unterliegen. Aber erinnert Euch: Wenn wir unterliegen, unterliegt auch die Kultur, so wie wir sie kennen. Wir werden uns, wohlverstanden, im Vorzimmer zum Weltuntergang befinden. Ich danke Euch für die Aufmerksamkeit.
Tosender Applaus ertönte, als der Kommandant von der kleinen Ehrentribüne herunterstieg. Marco stellte fest, dass Mastino ihn anblickte, und stimmte nach kurzem Zögern ebenfalls in den Applaus ein. Er konnte nicht behaupten, den Sinn des Vortrags völlig verstanden zu haben, aber irgendetwas an der Logik des Kommandanten erinnerte ihn an die wirren Theorien der Skins im Fitnessstudio in Verona. Es ging um Hautfarbe und Überlegenheit. Früher einmal hatte er im Namen dieser Ideen gnadenlos Schwarze, Juden, Zigeuner und Homosexuelle verdroschen. Jetzt wurde er, wie es schien, „zum mächtigsten Mann Italiens“ vorgelassen, wie Mastino den Kommandanten bezeichnet hatte.
– Komm, er möchte dich kennenlernen.
Mastino hängte sich bei ihm ein und schleppte ihn zum Kommandanten. Er war ein großer Mann mit völlig glatt geschorenem Schädel, blauen Augen, einer warmen und selbstsicheren Stimme. Sehniger, muskulöser Körper, undefinierbares Alter, militärische Haltung. „Wir waren gemeinsam im Kosovo“, hatte Mastino voller Stolz gesagt. Seit einem Monat war Marco nun in der Anti-Terror-Einheit. Die Ermordung des Senegalesen war als ungeklärter Fall zu den Akten gelegt worden. Einen Monat Bürokram, theoretische Ausbildung, Saufgelage, Fitnessstudio und abendliche Touren durch Rom. Mastino hatte ein Vier-Zimmer-Apartment in der Via di Donna Olimpia für ihn gefunden, im Monteverde-Viertel. Sie alle wohnten in sehr noblen Wohnungen. Mastino in einer Residenz in der Via della Lungara in Trastevere, im selben Gebäude, in dem auch ein berühmter Regisseur lebte (natürlich ein Kommunist, wie er mit einer verächtlichen Grimasse gesagt hatte). Corvo und Rainer teilten sich eine Suite in Parioli. Sottile bewohnte eine Villa in
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