Zeit der Wut
der Via Caltanissetta gefunden. Ein Beweis, dass die Spur noch heiß war und dass das blonde Mädchen – zur dem der tapfere Ritter von der traurigen Gestalt zweifellos unterwegs war, nachdem er den Bullenbaron reingelegt hatte – irgendwo in dieser Gegend wohnte. Es war kein Zufall, dass der kühne Jüngling die Lanze benutzt hatte, die Giacometti Don Quijote in die Hand gedrückt hatte … die Energie, die Lupo versprühte, wenn er die Aktivitäten koordinierte, die menschliche Wärme, die seine Mitarbeiter spürten, die Tatsache, das er nicht nur für die Erfolge, sondern auch für die Misserfolge Verantwortung übernahm … aus all diesen Gründen liebten ihn seine Männer. Sie waren bereit, für Lupo ihr Leben zu geben.
Das nützte er natürlich schamlos aus.
– Ich will, dass alle Wohnhäuser in einem Umkreis von fünfhundert Metern, ausgehend vom Fundort des Motorrads, überwacht werden. Ich will alle Grundbuchauszüge, Mietverträge und natürlich Namen, Nachnamen und Einzelheiten eines jeden verdammten Bewohners, einer jeden verdammten Wohnung auf meinem Schreibtisch haben.
Auf den Befehl folgte peinlich berührtes Schweigen, verstärkt durch ein weises „verdammt“, das bei der „Schule der Harten“ eifrige Nachahmer fand und aus fernen, nie vergessenen Jugendlektüren stammte. Daria war die einzige, die sich zu Wort meldete.
– Aber das ist eine Mordsarbeit! Dafür brauchen wir Wochen, vielleicht sogar Monate …
– Wir brauchen nur wenige Stunden. Ich brauche nur das „dreckige Dutzend“ zu aktivieren …
– Weißt du überhaupt, wie viele Gesetze wir brechen, Chef?
– Diesen Satz kenne ich bereits, Daria. Von dir habe ich mir was Besseres erwartet.
Jede Einsatzzentrale hat ihre dunklen Seiten. Geheime Dokumente – Wissen ist Macht, das ist die Grundregel –, außerordentliche Mitarbeiter. Das „dreckige Dutzend“, wie Lupo sie nannte, war eine Hackerbande, die seit geraumer Zeit am Rande der Legalität dahinschrammte. Und manchmal wurde die Grenze ausgerechnet auf Lupos Befehl fröhlich überschritten.
Das „dreckige Dutzend“ leistete hervorragende Arbeit. Acht Stunden nach der Auffindung des Motorrads hatte Lupo das Immobilienbüro an der Via Caltanissetta ausfindig gemacht und herausgefunden, wem es gehörte. Einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Namen er sehr gut kannte. Lupo verbrachte noch ein paar Stunden damit, Websites zu durchsuchen (er zog sich sogar ein elendig langes Video über die Eröffnung eines Seminarzentrums für Manager in Kampanien rein) und die Klatschspalten im
Messaggero
zu lesen. Als er Daria endlich reinließ, zeigte er ihr ein Foto, auf dem das geheimnisvolle Mädchen im Abendkleid bei einem großen gesellschaftlichen Empfang zu sehen war. Neben ihr das verschwommene Bild eines großen, beeindruckenden, offensichtlich glatzköpfigen Mannes.
– Wie hast du das geschafft … das ist Rossana!
– Sie heißt nicht Rossana … jetzt nennt sie sich Alissa irgendwas.
– Meinst du, das ist nicht ihr richtiger Name?
– Vielleicht ist der Mann der Einzige, der ihren richtigen Namen kennt, sagte Lupo und klopfte auf das Bild des Kommandanten.
– Aber jetzt wissen auch wir alles. Oder fast alles. Worauf warten wir? Verhaften wir sie, und sie sagen uns den Rest.
– So einfach ist es nicht …
– Geheimdienst?
– So einfach ist es nicht.
– Ich habe genug von deinen Geheimnissen, Chef. Wenn du jetzt nicht die Karten auf den Tisch legst, musst du dir jemand anderen suchen.
Lupo seufzte. Daria hatte nicht Unrecht. Mittlerweile waren sie an einem Punkt angelangt, wo er Gefahr lief, eine Mitarbeiterin wie sie wegen einer abstrakten Geheimhaltung zu verlieren. Bald würden auch die Mitglieder des anderen Netzwerks informiert sein. Und bald würden alle im Licht der Sonne spielen. Er brauchte Daria. Er musste sich ihr anvertrauen.
– Das letzte Mal habe ich ihn am Flughafen von Zagreb gesehen. Gleich nach dem Ende des Balkankriegs. Er war mit diesem Mädchen unterwegs. Sie war sehr hübsch und sehr verängstigt. Sie war kaum älter als fünfzehn. Die beiden sind zusammengeblieben. Sie nennen ihn den „Kommandanten“. Früher einmal war er Soldat. Jetzt ist er das, was man im Jargon als
problem solver
bezeichnet …
6.
In der vergangenen Woche hatte Marco mehr Zeit im Bett mit Evelina als im Dienst verbracht. Zweimal war er mit den Jungs ins Lager gegangen, und zweimal hatten sie eine schöne Straße gezogen. Mastino hatte
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