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Zeit der Wut

Zeit der Wut

Titel: Zeit der Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giancarlo de Cataldo
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eine Straße zu ziehen.

7.
    Guido passierte problemlos die Grenze. Ein verschlafener Gendarm weckte ihn in Menton auf, und nachdem er ihn oberflächlich gemustert hatte, gab er ihm den Personalausweis zurück und nuschelte „schönen Aufenthalt in Frankreich“. In den ersten beiden Tagen trieb er sich zwischen Belleville und Ménilmontant herum. In der ersten Nacht schlief er im öffentlichen Park, in der zweiten bei einem Algerier, der ihm für Bett und Diskretion dreißig Euro abknöpfte. Am Tag lief er durch die Straßen und beäugte Gruppen von Jungs, die aussahen wie Genossen. Aber wenn er sich nach einem blonden Freak namens Didier erkundigte, erntete er nur unbestimmte Blicke und unverständliche Antworten. Die Genossen von Belleville misstrauten ihm. Und sie hatten auch nicht gänzlich Unrecht. Das wenige Geld, das er besaß, verschwand beeindruckend schnell. Es war klar, dass er ohne Quartier nicht lange in Paris durchhalten würde. Die Gefahr, zufällig in eine Polizeikontrolle zu laufen, war sehr hoch. Seine Familie besaß eine Wohnung in der Rue de Seine. Offiziell war das jetzt seine Wohnung. Oder besser gesagt, es wäre seine Wohnung gewesen, wenn er in der Zwischenzeit nicht gestorben wäre.
    Wenn er nicht für tot erklärt worden wäre. Guido fragte sich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass ihn der Baron in Paris aufspürte. Angenommen er wusste von der Wohnung in der Rue de Seine, wie viel musste er ausgeben, um alle Besitztümer seiner Familie überwachen zu lassen? Wie viele Männer musste er hier und auf der gegenüberliegenden Seite der Welt abstellen, um ihn zu erwischen? Von einer öffentlichen Telefonzelle aus rief er im Londoner Anwaltsbüro an, das sich seit dem Tod seiner Eltern um die Verwaltung des Besitzes kümmerte. Er gab sich als alter Freund der Familie aus, der überlegte, ob er die Wohnung kaufen sollte. Man gab ihm zur Antwort, die Wohnung sei bereits verkauft worden. Er schlief wieder bei dem Algerier. Am Vormittag des vierten Tages sagte Youssouf zu ihm, wenn er Geld brauche, hätte er einen ganz kleinen Job für ihn. Guido nahm an. Eine halbe Stunde später kauerte er im Kipper eines Lieferwagens, an dessen Steuer Ali, Youssoufs Bruder, saß. Die Arbeit bestand darin, fünfzehn sehr schwere Kisten aus einem Lager in Aulnay-sous-Bois zu holen – einer der gefährlichsten
banlieues
, wo starke Spannungen zwischen Immigranten und ansässiger Bevölkerung bestanden –, und sie in ein anderes Lager in der Rue Parmentier zu transportieren. Am Ende des Tages hatte er höllische Rückenschmerzen und vierzig Euro in der Tasche.
    – Verdammt noch mal, was macht einer wie du in Paris?
    – Ich suche ein Mädchen, Youssouf.
    – Ach, das habe ich schon gehört … und warum gehst du nicht in ein schönes, malerisches Hotel, wie deine Landsmänner?
    – Ich habe kein Geld.
    – Märchen, mein Freund. Meiner Meinung nach gehst du nicht ins Hotel, weil du nicht auffallen willst. Dann also willkommen im großen und gastfreundlichen Paris, Bruder. Wenn du noch nicht völlig fertig bist, gäbe es morgen wieder einen kleinen Job …
    – Ich denke darüber nach.
    Obwohl er todmüde und erschöpft war, schleppte er sich nach Belleville. Er hatte es schon aufgegeben, Fragen zu stellen, er würde sowieso keine Antworten erhalten. Er starrte gerade in ein beinahe leeres Bierglas, als ein großer Typ mit kurzen, schon angegrauten Haaren und zwei misstrauischen grauen Augen auf ihn zukam.
    – Bist du der, der Didier sucht?, fragte der Typ in korrektem Italienisch mit unverkennbarem französischen Akzent.
    – Kennst du mich?
    – Die Frage sollte anders lauten, Junge. Wer bist du? Und warum läufst du herum und stellst so viele Fragen?

8.
    Als Erstes fiel Daria sein Parfum auf. Sie erinnerte sich, dass
ihr
Marco früher immer etwas wilder gerochen hatte. Sie hatte ihn immer unter die Dusche stellen müssen, bevor sie miteinander schliefen, er hatte geprustet, versucht, sie daran zu hindern, indem er sie unters Wasser zog … dann waren da die Haare, jetzt fielen sie ihm ins Gesicht und verbargen die alte Narbe, das dritte Auge. Und dieses Hemd mit den Ziffern auf der Brust …
    – Du bist ein Dandy geworden. Ein dummer Dandy.
    – Was?
    – Ein Parvenü.
    – Aber wie sprichst du, Daria?
    Bei
ihrem
Marco hätte sie nie ihre Universitätsbildung, ihre gesellschaftliche Überlegenheit ausgespielt. Das wäre kleinlich gewesen, sogar ein bisschen gemein. Aber das war nicht mehr
ihr
Marco.

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