Zeit des Aufbruchs
sehe ich jetzt.«
Er war wunderschön, wie er in Lampenlicht getaucht dasaß, die Augen so tief und unergründlich wie die heiligen Waldteiche der Priester. Mara atmete tief ein, um nicht die Fassung zu verlieren. »Ihr habt es angenommen, Hokanu, doch es war kein schlimmer Fehler.« Bevor sie sich versah, hatte sie ihrem Gefühl nachgegeben und über den Tisch nach seiner Hand gegriffen. Seine Haut war sehr warm, jede Sehne deutlich spürbar. »All diese Probleme wären gelöst, wenn Tasaio von den Minwanabi nicht drohend wie ein Schwert über meinem Nacken schweben würde. Wenn Ihr und Eure Familie nicht im Zentrum des Komplotts des Kaisers gestanden hättet, das dem Hohen Rat den Frieden aufzuzwingen versuchte. Wenn –«
Hokanu umschloß ihre Hand sanft mit der seinen. Der Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich leicht, aber er wirkte nicht verärgert oder gequält, sondern wesentlich interessierter. »Sprecht weiter.«
»Wenn wir an einem Ort leben würden« – sie zögerte, unsicher, wie sie ein Konzept darstellen sollte, das hauptsächlich von Kevin inspiriert war –, »an dem Gesetze in Wort und Tat herrschen, an dem Politik nicht Mord legitimiert …« Sie hielt inne und begriff in diesem Augenblick, daß sein Schweigen ihr eigenes widerspiegelte; daß seine Hände sich kräftiger um ihre schlossen, weil er ihren Groll über die tiefverwurzelten Fehler ihrer Kultur teilte, Fehler, die sie nur zögernd anzuerkennen begonnen hatte. Die mühelose Harmonie verstörte sie, und um wieder etwas Abstand zwischen ihnen zu bekommen, konzentrierte sie sich nur auf ihre Worte. »Wenn wir in einer Zeit leben würden, in der wir wüßten, daß unsere Kinder ohne die Gefahr eines Messers hinter jeder Tür aufwachsen könnten, dann, Ho-kanu von den Shinzawai, wäre ich tief geehrt, Eure Frau zu werden. Es gibt keinen Mann im Kaiserreich, den ich lieber als Vater meines nächsten Kindes sähe.« Sie wich seinem Blick aus, ängstlich darum bemüht, sich durch seine Gegenwart nicht zu weiteren Nachlässigkeiten im Protokoll verleiten zu lassen. »Doch bis sich der Rat beruhigt hat und die Dinge sich etwas geändert haben, würde eine Verbindung zwischen den Acoma und den Shinzawai nur große Gefahren bringen.«
Hokanu schwieg. Er streichelte ihre Hand, bevor er sie losließ, und sagte nichts, bis sie sich ihm wieder zuwandte, so daß er sie direkt ansehen konnte. »Ihr besitzt eine Weisheit, die weit über Euer Alter hinausreicht, Lady Mara. Ich kann nicht behaupten, daß ich nicht enttäuscht bin. Ich kann lediglich Eure Überzeugungen bewundern.« Er beugte seinen Kopf etwas zu einer Seite. »Eure seltene Stärke macht Euch nur noch liebenswerter.«
Mara spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Hokanu, die Tochter eines anderen Hauses wird ihr Glück an Eurer Seite finden.«
Hokanu verbeugte sich bei dem Kompliment. »Eine solche
Tochter müßte allerdings viel Glück haben, um meine Gefühle für Euch auf sich zu lenken. Doch bevor ich gehe, darf ich Euch wenigstens darum bitten, Freundschaft mit den Shinzawai anzustreben?«
»Mit Sicherheit«, sagte sie. Ihr war schwindelig vor Erleichterung darüber, daß er nicht verärgert war oder mit bloßer Höflichkeit auf ihre Absage reagiert hatte. Mehr als ihr bewußt gewesen war, hatte sie gefürchtet, ihre Weigerung könnte ihn gegen sie aufbringen. »Ich würde es als ein großes Privileg betrachten.«
»Nehmt es als Geschenk«, sagte Hokanu. »Eines, dessen Ihr wert seid.« Er trank den letzten Schluck Wein, dann bereitete er sich anmutig auf den Abschied vor.
Mara kam ihm zuvor, auch um den unglücklichen Augenblick seines Aufbruchs hinauszuzögern. »Wenn Ihr gestattet, möchte ich Euch um einen Gefallen bitten.«
Er hielt mitten in der Bewegung inne. Seine dunklen Augen suchten ihren Blick, aufrichtig, ohne jeden Verdacht, daß sie seine Schwäche ausnutzen könnte, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, sondern in dem deutlichen Wunsch, ihre Gründe zu erfahren. Mara las seinen Blick und wußte tief im Innern, wie ähnlich sie sich waren: Beide besaßen sie einen Instinkt für das Große Spiel und den Willen, es mit vollem Risiko zu spielen.
»Was möchtet Ihr, Lady Mara?« fragte Hokanu.
Sie bemühte sich, locker zu wirken, während sie überlegte, wie sie das unangenehme Thema zur Sprache bringen könnte. »Soviel ich weiß, ist in Eurem Haus häufig ein Erhabener zu Besuch.«
Hokanu nickte; sein Gesicht war jetzt vollkommen ausdruckslos.
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