Zeit des Lavendels (German Edition)
lösen. Wenn sie erkannte, woher sie kam, sah sie auch, wohin sie ging. Aus den vielen Wegen, die von ihrem Pfad abzweigten, würde sie den herausfinden, der auf ihre ureigenste Straße führte.
Mehr als eine Stunde vor Morgengrauen war Katharina wieder bei der alten Nele. Es dauerte eine Weile, bis die Heilerin angezogen war. Katharina half ihr dabei, auch wenn das Nele sichtlich peinlich war. Der Vollmond beleuchtete den Weg der beiden Frauen über die Holzbrücke und jenen Trampelpfad, der so gut im Unterholz des Waldes verborgen lag. Diesmal hatte Katharina keine Angst. Obwohl sie wusste, dass sie in gewisser Weise ihrem Schicksal entgegenging, das sie heute kennen lernen sollte.
Nele stützte sich schwer auf sie. Trotz des Stockes und der helfenden Arme von Katharina konnte sie nur sehr langsam gehen. Die alte Frau brummte verärgert. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch so schwach bin. Dabei müssen wir uns beeilen. Ich bin ein nutzloses altes Weib. Meine Beine wollen einfach nicht so, wie ich will. Fass mich fester um die Hüfte. Im Zweifelsfall musst du mich tragen. Seconia wartet. Sie ruft.«
Der Mond zog das letzte kleine Stück seiner nächtlichen Bahn, als Nele und Katharina den Stein erreichten.
Nele war trotz des kühlen Junimorgens schweißüberströmt und keuchte. Sie deutete auf einen der Bäume, die in einem Kreis um den Schrein der Beschützerin der Wasser wuchsen. »Setz mich dort ab. Ich muss mich ausruhen, damit ich dir mit meiner Kraft helfen kann. Es ist nicht mehr viel davon übrig. Du wirst es also fast alleine schaffen müssen. Mach es einfach wie beim letzten Mal. Geh zum Stein, leg deine Hand darauf. Seconia wird durch ihn zu dir sprechen.«
Katharina gehorchte ohne ein weiteres Wort. Wieder stieg jene kribbelnde Wärme durch ihre Hand und verteilte sich in ihrem ganzen Körper. Jeder andere Gedanke verschwand aus ihrem Kopf. Sie fühlte nur noch das Singen des Steins. Doch plötzlich, wie durch einen Blitz, änderte sich die Szene.
Sie stand in einem kärglichen Zimmer, das nur durch das flackernde Licht eines kleinen, schwachen Feuers erhellt wurde. Offensichtlich die Behausung eines Hörigen. Auf der schmalen Bettstatt erkannte sie eine blasse junge Frau, die ihr merkwürdig bekannt vorkam. Sie hatte offensichtlich gerade ein Kind entbunden, das bereits, wohl eingepackt in einem zerschlissenen Tuch, neben ihr auf dem Stroh lag und friedlich schlief. Eine andere Frau war gerade dabei, die letzten blutigen Zeichen der Geburt mit einem schmutzigen Tuch wegzuwischen, als die Türe aufging. Ein grauhaariger, stolz wirkender Mann mit roten Strähnen in seinem ansonsten ebenfalls grauen Bart betrat herrisch den Raum. »Wie geht es ihr, Jungfer Hildegard?«
Die Alte sah müde hoch. »Sie hatte eine schwere Geburt und blutet stark. Ich glaube, sie wird sterben.«
Der Greis wurde bleich. »Und das Kind?«
»Es lebt. Es ist gesund. Ihr seid Großvater eines kleinen Mädchens, gnädiger Herr. Doch das wird Euch wohl kaum interessieren. Das Kind einer Hörigen ist wohl nicht wichtig für einen Herrn wie Euch. Selbst wenn die Mutter darüber sterben muss. Auch eine Hörige ist ein Mensch.« Die Hebamme machte sich nicht die Mühe, ihren Zorn zu verbergen. Sie schien keinerlei Angst vor diesem Mann zu haben.
»So einer bin ich nicht«, bekam sie barsch zur Antwort. »Es mag zwar nicht recht sein, was ich tun werde, doch ich stehe für die Schande meiner Familie gerade. Mein Sohn hat diese Dirne Katharina geliebt«, fügte er leise hinzu. »Ich werde nicht zulassen, dass das Kind verkommt. Auch wenn es nie den Namen unserer Familie tragen kann.«
Die Hebamme blickte erstaunt auf. »Was wollt Ihr tun? Die Mutter hat nicht mehr lange zu leben. Das Wurm braucht Milch, wenn es nicht verhungern soll. Wer wird sie ihm geben?«
Ungeschickt hob der Alte das Baby vom Stroh hoch. Man sah, dass er nicht viel Erfahrung mit Neugeborenen hatte. »Ich werde dafür sorgen, dass du nicht verkommst. Und wenn es das Letzte ist, was ich in diesem Leben tue. Schon um der Leiden deiner Mutter willen, die du niemals sehen wirst. Ebenso wenig wie deinen Vater.« Dann sah er auf. »Wickle das Kind gut ein. Ich werde es zu einer Amme bringen, der ich vertrauen kann. Sie weiß bestimmt Rat.«
Die Hebamme nickte und tat, wie ihr geheißen. Der Greis strich noch einmal sanft über die Wangen der jungen Mutter. Dann seufzte er und ging hinaus. Er würde tun, was er musste, um den Namen seiner Familie zu
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