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Zeit des Lavendels (German Edition)

Zeit des Lavendels (German Edition)

Titel: Zeit des Lavendels (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
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schützen. Niemals durfte sein Sohn erfahren, dass dieses Kind nicht mit der Mutter gestorben war. Die Kleine musste verschwinden.
    Einige Sekunden lang fühlte Katharina wieder nur das Singen des Steins. Sie war in einem Traum gefangen, aus dem sie sich nicht lösen konnte. Jetzt kam jener Albtraum zurück, der sie so viele Nächte lang hatte wimmernd hochschrecken lassen. Wieder der Feuerstapel. Wieder Jakob Murgel, der ihn ansteckte, wieder Magdalena von Hausen, die dabeistand und sie traurig anschaute. Doch dieses Mal half die Fürstin der alten Nele, die quälenden Flammen zu ersticken. Und wieder fiel Katharina dieses schillernde grüne und blaue Wasser auf, unter dem das Feuer starb.
    Der Stein sang weiter. Aus dem Morgendunst des Horizontes bildete sich die Form eines jungen Mannes mit flammend rotem Haar und vornehmer Kleidung. Neben ihn trat eine junge Frau in einem zerrissenen Rock, mit einem Blutfleck in der Höhe des Schoßes. Noch ein Paar kam dazu und noch eines. Immer mehr Menschen wurden es. Da erschien einer mit einem Strick um den Hals, einer mit nur einem Bein. Es kamen Gutgekleidete und Menschen in Lumpen. Es kam ein Bauer mit seinem Pflug. Alle streckten ihr lächelnd die Arme entgegen. Manche hatten dunkle Haare, manche rötlichbraune, wie sie selbst, in manchen Augen erkannte sie die gelbbraunen Punkte ihrer eigenen Pupillen wieder. Manche waren groß, manche hatten sanfte, satte Gesichter, andere dünne, verhärmte. Doch sie alle gehörten zu ihr. Jeder von ihnen war bereit, ihr auf seine Weise die Kraft zu geben, die sie brauchte, um vom Holzstoß zu steigen und ins Leben zurückzukehren.
    Vorsichtig lösten Nele und Magdalena die Fesseln, die Katharina an den Pfahl banden, der in die Spitze des Scheiterhaufens gerammt war. Sie sah sich mit ihrer Hilfe herabsteigen und auf all diese Menschen zugehen. Die Figur des Jakob Mur-gel wurde dabei immer durchsichtiger, ehe er sich schließlich ganz auflöste. Und die Menschen vor ihr winkten ihr zu. Lächelten sie an. Gaben ihr Mut, bis schließlich einer nach dem anderen ebenfalls mit der Erde, dem Wind, der Luft und der Sonne verschmolz. Zurück ließen sie nur ihre große, grenzenlose Liebe.
    Mit einem Ruck kehrte Katharina zurück in die Gegenwart. Das Singen des Steines hatte aufgehört, die Strahlen der Morgensonne zeichneten erste Lichtstreifen auf seine glatte Oberfläche. Sie sah sich um, sah die alte Nele unter dem Baum liegen und schlafen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie keine Angst mehr, kannte all jene, zu denen sie gehörte. Sie wusste zwar noch immer nicht, wer sie waren. Doch sie hatte ihre Eltern gesehen, deren Eltern und deren Eltern. Alle, die zu ihr gehörten und zu denen sie gehörte, diese ganze unendliche Schar. Auch einige dieser Menschen hatten gelitten, sich gefreut, hatten geweint und gelacht. Sie waren ein Teil von ihr, und sie war ein Teil von ihnen. Bis in alle Ewigkeit, was auch immer geschah. Sie würde nie wieder einsam sein. Es war nicht wichtig, ihre Namen zu kennen. Wichtig war nur dieses Gefühl der Geborgenheit, das sie erlebt hatte. Sie würde es nie wieder vergessen. Ebenso wenig wie diese lebendige Kraft, die von ihnen allen ausgeströmt war und ihren Körper bis in den letzten Winkel erfüllt hatte.
    Eine veränderte Katharina ging zu dem Baum hinüber und weckte Nele. Die alte Heilerin blickte zu ihr hoch und blinzelte in den Strahlen der Morgensonne, die durch die Zweige hindurch in ihre Augen schienen. »Nun weißt du es also«, stellte sie fest. »Mehr können Seconia und ich dir nicht sagen. Mich bindet noch immer ein Schwur. Die Einzige, die dir die Namen deiner Eltern mitteilen könnte, ist Magdalena von Hausen. Aber auch sie hat geschworen, zu schweigen. Nun bring mich wieder in meine Hütte. Ich muss weiterschlafen. Und du hast eine Aufgabe zu erfüllen. Seconia hat mit ihrem Wasser das quälende Feuer des Hasses gelöscht, das in dir brannte. Dieser Hass hätte dich beinahe zerstört. Und aus Hass entsteht kein Leben und keine Zukunft. Nur aus der Kraft der Liebe. Nun fahr nach Ensisheim und bitte für Magdalena von Hausen.«
    So schnell wie erhofft, konnte Katharina ihre Reise nach Ensisheim doch nicht antreten. Hans Jakob von Schönau wollte die junge Frau auf keinen Fall gehen lassen, ohne sie vorher genau über den Stand der Dinge zu informieren. Dazu gehörte auch, dass er ihr schilderte, wer welche Interessen bei der Klärung der Nachfolge Magdalenas von Hausen haben könnte.

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