Zeit des Lavendels (German Edition)
ein klarer Verstand. Hör also auf, dich innerlich zu zerfleischen. Du hast noch ein langes Leben vor dir. Wenn Gott Gnade üben kann, solltest du es dir selbst gegenüber auch lernen. Was du getan hast, war Unrecht. Aber hör auf, dich zum Richter aufzuschwingen, weder über andere noch über dich selbst. Der Mensch ist unvollkommen und muss lernen, damit zu leben. Überlass das Urteil der Gerechtigkeit Gottes. Sie sieht mehr als wir Menschen.« Sie lächelte die junge Frau ermutigend an.
Katharina war unfähig, etwas dazu zu sagen.
Nele zögerte einen Moment, ihre Augen wurden ernst. »Es gibt etwas, das du für mich tun musst, bevor du nach Ensisheim gehst. Du musst mich zu Seconia bringen. Ich kann nicht alleine gehen. Doch das ist eine Sache allein zwischen dir, ihr und mir. Wir können niemanden sonst dabei brauchen. Das heißt, du musst es alleine schaffen, mich zum Stein zu bringen. Es muss sein. Ich werde nicht mehr allzu lange leben.«
Katharina fuhr hoch, doch Nele winkte ab. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst still sein und zuhören. Der Tod ist nichts, wovor man sich fürchten muss. Schlimm kann nur das Sterben werden. Ich bin alt. Ich weiß nicht, wie alt, aber ich habe mein Leben gelebt und den vollen Anteil an Freude und Schmerz bekommen. Ich bin müde und bereit zu gehen. Diese Krankheit war eine Warnung. Sie sollte mir klarmachen, dass ich noch einiges zu richten habe, ehe ich diese Welt verlasse. Erst dann kann ich mich ausruhen. Zwei Dinge muss ich noch tun. Beide betreffen auch dich. Und beide sind wichtig. Zum einen: Seconia braucht eine Wächterin, die ihren Stein schützt und die ihr Vermächtnis bewahrt, die der Herrin der Wasser hilft, ihre heiligen Quellen zu erhalten und Schaden von ihnen abzuwenden. Jede Wächterin hat die Aufgabe, eine Nachfolgerin zu suchen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Seconia hat mir in meinen Träumen gesagt, dass sie mit dir einverstanden ist. Deshalb müssen wir wieder zu ihrem Stein gehen. Du musst lernen, ihre Botschaften zu verstehen. Und am Stein der Seconia wirst du auch erfahren, wer du bist und woher du kommst. Ich breche damit das Schweigegelübde, das ich einst geleistet habe. Bei meiner Seele habe ich geschworen, das Geheimnis mit in mein Grab zu nehmen. Der Herrgott wird meine Seele schon nicht verdammen, wenn ich meinen Eid jetzt breche. Schließlich gibt es dafür einen guten Grund. Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen in diesem Leben, und dafür ist es wichtig, dass du wenigstens einen Teil deiner Geschichte erfährst. Du und deine Kinder und deren Kindeskinder werden noch viel Leid, Tod und Blut erleben, doch sie werden auch großen Anteil haben an den Geschehnissen in der Region der Quellen — über Menschengedenken hinweg. Sie werden hoch steigen und tief fallen. Sie werden ihr Leben im Dreck fristen und an Bäumen hängen. Sie werden kämpfen, sie werden sterben. Und aus ihrem Blut und aus ihrer Liebe wird diese Gegend wachsen und gedeihen. So steht es im Buch des Schicksals geschrieben. Denn du vereinigst alles in dir. Einen großen Namen und die Erde der Bauern. Seconia wird dir dazu die Kraft der heilenden Wasser erklären. Damit die Früchte deines Baumes wachsen können, damit er seine Wurzeln kräftig in die Erde schlägt und sich speist aus den Familien des Adels und des Volkes, aus dem Leben der Niedrigsten, der Geächteten und der Hochgeborenen. Denn du bist diejenige, die dies alles in sich vereint. Doch jetzt lass mich in Ruhe schlafen. Ich muss Kraft sammeln. Morgen früh, bevor der Mond untergeht und die Sonne ihre Bahn zieht, müssen wir am Stein der Seconia sein. Komm eine gute Stunde vor Sonnenaufgang zu mir.« Die letzten Worte hatte Nele nur noch flüstern können. Dann war sie auch schon eingeschlafen.
So konnte Katharina ihr keine der vielen Fragen mehr stellen, die ihr auf der Seele brannten. Zu rätselhaft waren die Worte der alten Heilerin.
Abends streichelte sie liebevoll ihren kleinen Sohn. Wenn sie Neles Prophezeiung richtig verstanden hatte, würde sein Leben nicht einfach werden.
Katharina konnte die ganze Nacht über nicht richtig schlafen. Doch diesmal war sie nicht von bösen Träumen geplagt. Eine Art seltsamer Schwebezustand nahm sie gefangen. Es war weder ein Wachen noch ein Träumen. Sie versank willig darin. Denn zum ersten Mal seit Wochen fand ihre Seele Frieden. Eigentlich hätte sie aufgeregt sein sollen. Doch sie war es nicht. In ihr herrschte eine große Ruhe. Sie wusste, das Rätsel würde sich
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