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Zeit des Mondes

Zeit des Mondes

Titel: Zeit des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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gut.“
    Sie nickte.
    „Kein Wunder, wenn man bedenkt, was du durchgemacht hast.“
    „Du warst auch nicht in der Schule“, sagte ich.
    „Ich gehe nicht zur Schule.“
    Ich starrte sie an.
    „Meine Mutter unterrichtet mich“, sagte sie. „Wir glauben, Schulen hemmen die natürliche Neugier, das Schöpferische und die Intelligenz der Kinder. Das Bewusstsein muss zur Welt hin geöffnet werden, nicht in einem dunklen Klassenzimmer eingeschlossen werden.“
    „Oh“, sagte ich.
    „Findest du nicht, Michael?“
    Ich stellte mir vor, wie ich mit Leakey und Coot durch den Hof lief. Ich dachte an Monkey Mitfords Wutanfälle, an Miss Clarts’ Geschichten.
    „Weiß nicht“, sagte ich.
    „Unser Motto steht auf der Wand neben meinem Bett“, sagte sie. „ Wie kann ein Vogel, der zur Freude geboren ist, in einem Käfig sitzen und singen? William Blake.“
    Sie zeigte in den Baum hinauf. „Die Jungen in dem Nest werden kein Klassenzimmer brauchen, um fliegen zu lernen. Oder?“
    Ich schüttelte den Kopf.
    „Na also“, sagte sie. „Mein Vater glaubte das auch.“
    „Dein Vater?“
    „Ja. Er war ein wunderbarer Mann. Er starb, bevor ich geboren wurde. Wir denken oft an ihn, wie er uns vom Himmel zuschaut.“
    Sie beobachtete mich mit diesen Augen, die direkt in mich hineinzuschauen schienen.
    „Du bist ein stiller Mensch“, sagte sie.
    Ich wusste nicht, was sagen. Sie fing wieder zu lesen an.
    „Glaubst du, dass wir vom Affen abstammen?“, sagte ich.
    „Das ist keine Glaubenssache“, sagte sie. „Das ist eine bewiesene Tatsache. Sie heißt Evolution. Das musst du doch wissen. Ja, wir stammen von ihm ab.“
    Sie sah vom Buch auf.
    „Trotzdem will ich hoffen“, fuhr sie fort, „dass wir auch noch ein paar schönere Vorfahren haben. Du nicht?“
    Sie beobachtete mich wieder.
    „Ja“, sagte ich.
    Sie las weiter. Ich beobachtete die Amsel, die in den Baum flog. Aus ihrem Schnabel hingen Würmer.
    „Es war großartig, den Käuzen zuzuschauen“, sagte ich.
    Sie lächelte.
    „Ja. Es sind natürlich Raubvögel. Mörder sind’s, Wilde. Sie sind wunderbar.“
    „Die ganze Nacht hindurch habe ich geträumt, dass ich sie höre.“
    „Ich horche auch, ob ich sie höre. Manchmal, mitten in der Nacht, wenn kein Verkehr mehr ist, höre ich sie einander rufen.“
    Ich legte meine Hände fest zusammen, sodass zwischen den Handflächen eine Höhle und zwischen den Daumen eine Lücke entstand.
    „Hör mal“, sagte ich und bließ sanft in die Lücke hinein und erzeugte die Töne, die ein Kauz macht.
    „Das ist ausgezeichnet!“, sagte Mina. „Zeig es mir.“
    Ich zeigte ihr, wie sie die Hände zusammendrücken und wie sie blasen musste. Zuerst konnte sie es nicht, dann konnte sie es. Sie machte hu-hu wie ein Kauz und grinste.
    „Ausgezeichnet“, sagte sie. „Ganz ausgezeichnet.“
    „Mein Freund Leakey hat es mir gezeigt“, sagte ich.
    „Ob die Käuze kämen, wenn man nachts so rufen würde?“
    „Vielleicht. Vielleicht solltest du es mal versuchen.“
    „Das werde ich. Heute Nacht versuch ich’s.“
    „Huhu“, machte sie. „Huhu huhu huhu. Ausgezeichnet!“ Sie klatschte in die Hände.
    „Da gibt es noch etwas, was ich dir zeigen könnte“, sagte ich. „So wie du mir die Käuze gezeigt hast.“
    „Was ist das?“
    „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es wirklich ist oder ob es ein Traum ist.“
    „Das macht doch nichts. Wirklichkeit und Träume geraten ständig durcheinander.“
    „Ich müsste dich dorthin mitnehmen und es dir zeigen.“
    Sie machte große Augen und grinste, als ob sie bereit sei, sofort mitzugehen.
    „Jetzt geht es nicht“, sagte ich.
    Papa öffnete die Haustür und winkte.
    „Ich muss gehen“, sagte ich. „Ich muss 27 und 53 holen.“
    Sie blickte auf.
    „Geheimniskrämer“, sagte sie. „Das bist du.“
    Die Amsel flog vom Baum weg.
    Ich stand auf, um zu gehen. Ich sagte: „Weißt du, wofür Schulterblätter da sind?“
    Sie kicherte.
    „Weißt du nicht einmal das?“, sagte sie.
    „Weißt du es?“
    „Es ist eine bewiesene Tatsache, Allgemeinbildung. Sie sind dort, wo deine Flügel waren und wo sie wieder wachsen werden.“
    Sie lachte.
    „Also, dann geh, Geheimniskrämer. Geh und hol deine geheimnisvollen Nummern.“

16
    Kurz vor Dämmerung am nächsten Morgen. Ich lenkte den Schein der Taschenlampe in sein weißes Gesicht.
    „Du schon wieder“, krächzte er.
    „Noch einmal 27 und 53“, sagte ich.
    „Speise der Götter“, sagte er.
    Ich

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