Zeit des Mondes
die Käuze mit großen Flügeln lautlos heimwärts fliegen. Ich legte die Hände zusammen und blies in die Lücke zwischen den Daumen.
Huhu. Huhu huhu huhu.
Dann schien mir, ich sähe ein rundes blasses Gesicht im Inneren des Dunkels eines Fensters im oberen Stock von Minas Haus. Ich legte wieder die Hände zusammen.
Huhu. Huhu huhu huhu.
Es kam eine Antwort.
Huhu. Huhu huhu huhu.
17
In der Mittagszeit ging ich in den Garten vor ihrem Haus. Sie saß dort auf dem Rasen, auf einer unter dem Baum ausgebreiteten Decke. Sie hatte ihre Bücher, Bleistifte und gemalten Bilder um sich herum verstreut. Ich war wieder nicht in der Schule gewesen. Den ganzen Morgen hatte ich die Wildnis weiter gerodet. Papa hatte im vorderen Zimmer gearbeitet, gestrichen, die Wände abgekratzt, alles vorbereitet, um die Tapeten aufzuziehen.
„Der Geheimniskrämer“, sagte sie. „Guten Tag. Hallo.“
Ihr aufgeschlagenes Buch zeigte ein Vogelskelett. Dieses hatte sie in ihr Skizzenbuch abgezeichnet.
„Machst du Biologie?“, sagte ich.
Sie lachte.
„Siehst du, wie die Schule dich einsperrt?“, sagte sie. „Ich zeichne, male, lese, schaue. Ich spüre Sonne und Luft auf meiner Haut. Ich höre dem Lied der Amsel zu. Ich öffne mein Bewußtsein. Ha! Schule!“
Sie nahm ein Buch mit Gedichten von ihrer Decke.
„Hör zu“, sagte sie.
Sie setzte sich ganz aufrecht, räusperte sich und hielt das geöffnete Buch vor sich.
Im Sommer morgens eine Schulbank drücken,
Oh! Eine Freude ist das nicht,
ganz durchbohrt von kalten Blicken,
tun die Kleinen ihre Pflicht,
seufzend, mit gekrümmtem Rücken.
Sie klappte das Buch zu.
„Wieder William Blake. Hast du von ihm schon etwas gehört?“
„Nein.“
„Er malte Bilder und schrieb Gedichte. Und viel Zeit verbrachte er ohne Kleider. Er sah Engel in seinem Garten.“
Sie winkte mich zu sich herüber. Ich stieg über die Mauer und setzte mich neben sie auf die Decke.
„Sei still“, flüsterte sie. „Sei ganz still. Horch.“
„Auf was?“
„Horch einfach.“
Ich horchte. Ich hörte den Verkehr von der Crow Road und von den Straßen weiter weg. Ich hörte Vögel singen. Ich hörte den Wind in den Bäumen. Ich hörte meinen eigenen Atem.
„Was kannst du hören?“
Ich sagte es ihr.
„Horch noch intensiver“, sagte sie. „Horch noch angestrengter. Horch auf das leiseste, süßeste Geräusch.“
Ich schloss die Augen und horchte wieder.
„Auf was horche ich?“, sagte ich.
„Es kommt von oben, aus dem Baum.“
„Aus dem Baum?“
„Horch einfach, Michael.“
Ich versuchte mich auf den Baum zu konzentrieren, auf die Äste und Blätter, auf die winzigen Triebe, die aus den Zweigen wuchsen. Ich hörte die Triebe und Blätter sich im leichten Wind bewegen.
„Es kommt aus dem Nest“, sagte sie. „Horch einfach.“
Ich horchte, und schließlich hörte ich es: ein leiser piepsender Ton, von fern, als ob er aus einer anderen Welt käme. Ich hielt den Atem an.
„Ja“, flüsterte ich.
„Die Jungen!“, sagte sie.
Sobald ich es einmal gefunden hatte und wusste, was es war und wo es war, konnte ich es zusammen mit allen anderen lauteren Geräuschen hören. Ich konnte die Augen öffnen. Ich konnte Mina anschauen. Dann konnte ich noch einmal die Augen schließen und die Amseljungen im Nest piepsen hören. Ich konnte mir sie dort vorstellen, dicht zusammengedrängt.
„Ihre Knochen sind leichter als unsere“, sagte sie.
Ich öffnete die Augen. Sie zeichnete das Skelett noch einmal ab.
„Ihre Knochen sind fast hohl. Wusstest du das?“
„Ja, ich glaube.“
Sie hob einen kleinen Knochen hoch, der neben ihren Büchern lag.
„Der ist von einer Taube, glauben wir“, sagte sie.
Sie zerbrach den Knochen und er zersplitterte. Sie zeigte mir, dass er nicht massiv war, sondern innen aus einem Netz nadeldünner Stützknochen bestand.
„Der Hohlraum innerhalb des Knochens ist mit Luft gefüllt“, sagte sie. „Fühl mal.“
Ich legte den Knochen auf meinen Handteller. Ich schaute in die Innenräume, betastete die Splitter.
„Das ist im Laufe der Evolution entstanden“, sagte sie. „Der Knochen ist leicht, aber stark. Er hat sich so verändert, dass der Vogel fliegen kann. Über Millionen von Jahren hat sich die Anatomie des Vogels so entwickelt, dass er fliegen kann. Wie du von den Skelettzeichnungen, die du neulich gemacht hast, weißt, haben wir Menschen nicht solche Knochen.“
Sie schaute mich an.
„Verstehst du? Habt ihr das in der Schule
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