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Zeit des Mondes

Zeit des Mondes

Titel: Zeit des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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und es war leuchtend weiß mit ganz dunklen Höhlen, wo ihr Mund und ihre Augen waren.
    „Ich heiße Mina“, sagte sie.
    Sie seufzte.
    „Ich bin Mina“, sagte sie. „Du bist …?“
    „Du bist Mina“, sagte er. „Ich bin todkrank.“
    Sie berührte seine Hände. Sie hob seinen schmutzigen Ärmelaufschlag und berührte seine mageren, gekrümmten Handgelenke.
    „Verkalkung“, sagte sie. „Der Vorgang, durch den der Körper sich verhärtet, starr wird. Der Vorgang, durch den der Körper versteinert.“
    „Nicht so dumm, wie sie aussieht“, krächzte er.
    „Dazu gehört“, sagte sie, „dass auch das Bewusstsein starr wird. Das Gehirn hört auf zu denken und sich etwas vorzustellen. Es wird knochenhart. Es ist kein Gehirn mehr, es ist ein Knochenhaufen, der in einer Steinmauer eingeschlossen ist. Dieser Vorgang ist die Verknöcherung.“
    Er seufzte.
    „Mehr Bier“, sagte er.
    Ich goss ihm noch einmal Bier in den Mund.
    „Bring sie weg“, flüsterte er.
    Das Dach vibrierte im Wind. Staub fiel auf uns herab.
    Mina und ich kauerten eng aneinander, unsere Knie lagen beinahe auf ihm. Sie drehte ihr Gesicht weg, als der unangenehme Geruch seines Atems sie streifte. Ich nahm ihre Hand und führte sie zu seinem Schulterblatt. Ich presste ihre Fingerspitzen gegen die Wölbung unter seiner Jacke. Sie neigte sich über ihn und betastete sein anderes Schulterblatt. Als sie mich anschaute, glänzten ihre Augen hell im Taschenlampenlicht. Ihr Gesicht berührte fast seines. Ihre blasse Haut strahlte im Taschenlampenlicht.
    „Wer bist du?“, flüsterte sie.
    Keine Antwort.
    Er saß mit gesenktem Kopf da und hatte die Augen geschlossen.
    „Wir können dir helfen“, flüsterte sie.
    Keine Antwort.
    Ich spürte, wie mir die Tränen aus den Augen liefen.
    „Wir könnten dich woanders hinbringen“, sagte Mina. „Es ist dort sicherer. Niemand würde etwas erfahren. Du könntest dort auch einfach sitzen und sterben, wenn das wirklich das ist, was du willst.“
    Es streifte etwas an uns vorbei. Ich leuchtete mit der Taschenlampe hinab und sah Säusel, der zu uns in den Raum hinter den Teekisten gekommen war.
    „Säusel“, sagte Mina.
    Der Kater kam an seine Seite und presste sich gegen seine kranken Hände. Er seufzte.
    „Sanft und weich“, flüsterte er. Seine Knöchel bewegten sich am weichen Katzenfell entlang.
    „Süßes Tier“, flüsterte er.
    Säusel schnurrte.
    Die Balken knarrten. Wieder fiel Staub auf uns herab.
    „Bitte erlaube uns, dich irgendwo anders hinzubringen“, sagte ich.
    „Mehr Bier“, flüsterte er.
    Ich hielt ihm eine Lebertran-Kapsel hin.
    „Nimm noch eine von diesen“, sagte ich.
    Er legte den Kopf zurück. Ich goss das Bier hinab. Ich ließ eine Kapsel auf seine blasse Zunge fallen.
    Er öffnete die Augen. Er schaute tief in Mina hinein. Sie schaute tief in ihn hinein.
    „Du musst zulassen, dass wir dir helfen“, sagte sie.
    Er schwieg lange Zeit.
    „Macht, was ihr wollt“, seufzte er.

21
    Wir standen in der Wildnis. Säusel saß neben uns. Wir zupften einander die Schmeißfliegen und Spinnweben von den Kleidern und aus den Haaren. Minas Augen funkelten hell.
    „Er ist ein außergewöhnliches Wesen“, sagte sie.
    Eine Windbrise wehte und die Garage knarrte.
    „Wir werden ihn heute Nacht von hier wegbringen“, sagte sie.
    „In der Morgendämmerung“, sagte ich.
    „Wir werden einander rufen. Wir werden wie die Käuze schreien. Damit wir auf jeden Fall aufwachen.“
    Wir starrten ineinander hinein.
    „Ein außergewöhnliches Wesen“, flüsterte sie.
    Sie öffnete die Hand und zeigte mir den dunklen Ball aus hart gewordener Haut und Knochen, den sie mitgenommen hatte.
    „Was ist das?“, sagte ich.
    Sie biss sich auf die Lippen.
    „Es kann nicht das sein, was ich denke, dass es ist“, sagte sie. „Es kann das nicht sein.“
    Papa kam an das hintere Fenster. Er beobachtete uns.
    „Ich gehe jetzt“, sagte ich. „Ich werde im Garten weiterarbeiten.“
    „Ich werde an der Amsel weitermachen.“
    „Ich sehe dich in der Morgendämmerung.“
    „In der Morgendämmerung. Ich werde nicht schlafen.“
    Sie drückte mir die Hand, glitt durch das Tor hinaus, Säusel folgte ihr auf den Fersen.
    Ich kehrte in die Wildnis zurück. Ich winkte Papa zu. Mein Herz klopfte. Ich kniete auf der Erde, zerrte am Unkraut, verjagte schwarze Käfer.
    „Er wird nicht sterben“, flüsterte ich. „Er wird nicht einfach sterben.“
    Später kam Papa heraus. Wir tranken zusammen Orangensaft

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