Zeit des Mondes
tun.“
„Und was, wenn andere Leser es lesen wollen?“
„Mina“, sagte ihre Mama.
„Und wo würde William Blake hineinpassen?“, fragte Mina. „ Tiger! Tiger! Flammenpracht / In den Wäldern dieser Nacht. Ist das für die guten Leser oder für die schlechten Leser? Braucht man dafür das richtige Lesealter?“
Ich starrte sie an. Ich wusste nicht, was antworten. Ich wollte über die Mauer zurück und heim.
„Und wenn es für die schlechten Leser wäre, würden die guten Leser sich nicht damit abgeben, weil es ihnen zu blöd wäre?“, fragte sie.
„Mina“, sagte ihre Mutter. Sie lächelte mich freundlich an. „Beachte es nicht“, sagte sie. „Manchmal ist sie etwas vorlaut.“
„Schon gut“, sagte Mina.
Sie kritzelte wieder in das schwarze Buch.
Sie schaute zu mir auf.
„Also, mach weiter“, sagte sie. „Mach deine Hausaufgaben wie ein braver Schuljunge.“
Ihre Mutter lächelte wieder. „Ich werde jetzt hineingehen“, sagte sie. „Wenn sie noch mal frech wird, lass dir nichts gefallen. Ja?“
„Okay“, sagte ich.
Nachdem sie gegangen war, schwiegen wir lange. Ich tat, als läse ich „Julius und die Wildnis“, aber die Worte waren tot und bedeutungslos.
„Was schreibst du da?“, fragte ich schließlich.
„Mein Tagebuch. Über mich und dich und Skellig“, sagte sie.
Sie schaute nicht auf.
„Was, wenn jemand es liest?“, sagte ich.
„Warum sollten sie es lesen? Sie wissen, es ist meins und es ist etwas Persönliches.“
Sie schrieb weiter. Ich dachte an unsere Tagebücher in der Schule. Wir schrieben jede Woche etwas hinein. Immer wieder prüfte Miss Clarts nach, ob sie ordentlich waren und ob die Zeichensetzung und die Rechtschreibung stimmten. Sie gab uns Noten dafür, genauso, wie wir Noten bekamen für Anwesenheit, Pünktlichkeit, Betragen und so weiter. Mina sagte ich nichts davon. Ich tat weiterhin, als läse ich das Buch. Ich spürte Tränen in den Augen. Das erinnerte mich an das Baby, und da musste ich erst recht weinen.
„Tut mir leid“, sagte Mina, „wirklich. Etwas, was wir an den Schulen hassen, ist der Spott, der dort herrscht. Und ich bin gerade spöttisch.“
Sie drückte meine Hand.
„Es ist so aufregend“, flüsterte sie. „Du, ich, Skellig. Wir müssen zu ihm. Er wartet sicher schon auf uns. Was sollen wir ihm bringen?“
24
„Was ist das für ein Haus?“, fragte ich, als sie das Gartentor öffnete und wir in den großen Garten hinter dem Haus gingen. Wir duckten uns und eilten zur GEFAHR -Tür.
„Es gehörte meinem Großvater“, sagte sie. „Er ist letztes Jahr gestorben. Er hat es mir vermacht. Es wird mir gehören, sobald ich achtzehn bin.“ Sie drehte den Schlüssel im Schloss. „Wir werden es bald renovieren lassen. Dann vermieten wir es.“
Wir gingen mit unseren Päckchen hinein, Säusel dicht hinter uns.
„Mach dir deshalb keine Sorgen“, flüsterte sie. „Es dauert noch Wochen, bis die Bauleute kommen.“
Ich knipste die Taschenlampe an. Wir gingen in das Zimmer, in dem wir ihn zurückgelassen hatten. Er war nicht da. Das Zimmer war still und leer, als ob er nie da gewesen wäre. Dann sahen wir hinter der Tür Minas Wolljacke und tote Schmeißfliegen auf den Bodenbrettern und hörten Säusel auf der Treppe miauen. Wir gingen auf den Gang und sahen Skelligs Körper auf den unteren Stufen liegen.
„Erledigt“, krächzte er, als wir uns neben ihn kauerten. „Todkrank. Aspirin.“
Ich kramte in seiner Tasche, nahm zwei von den Tabletten heraus und steckte sie ihm in den Mund.
„Du bist dort weg“, sagte ich. „Ganz allein bist du dort weg.“
Er wimmerte vor Schmerz.
„Willst du weiter hinauf?“, sagte Mina.
„Ja. Höher hinauf“, flüsterte er.
Wir ließen unsere Pakete da, hoben ihn zusammen auf und trugen ihn zum ersten Treppenabsatz.
Er stöhnte und wand sich vor Schmerz.
„Legt mich auf den Boden“, krächzte er.
Wir brachten ihn in ein Schlafzimmer mit einer hohen weißen Decke und verblassten Tapeten. Wir lehnten ihn gegen die Wand. Durch die Risse der Bretter vor den Fenstern drangen dünne Lichtstrahlen herein und erhellten sein blasses, trockenes Gesicht.
Ich rannte zurück zu den Päckchen. Wir breiteten die Decken aus, die wir mitgebracht hatten, legten sie mit einem Kissen auf den Boden. Wir stellten eine kleine Plastikschale für sein Aspirin und den Lebertran hin. Ich stellte eine offene Flasche Bier daneben. Dazu ein Käsebrot und einen halben Riegel Schokolade.
„Alles für
Weitere Kostenlose Bücher