Zeit des Mondes
und saßen an der Hauswand.
Er grinste.
„Du magst Mina“, sagte er.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich glaube schon“, sagte er.
„Sie ist außergewöhnlich“, sagte ich.
22
Ich war beim Baby. Wir lagen zusammen im Amselnest. Sein Körper war mit Federn bedeckt und es war weich und warm. Die Amsel saß auf dem Hausdach, flatterte mit den Flügeln und schrie. Doktor MacNabola und Doktor Tod standen unten im Garten. Neben ihnen ein Tisch voller Messer, Scheren und Sägen. Doktor Tod hielt eine große Spritze in der Faust.
„Bring das Baby herunter!“, rief er. „Wir machen es wieder so gut wie neu!“
Das Baby piepste und kreischte vor Angst. Es stand am Nestrand, flatterte mit seinen Flügeln und versuchte zum ersten Mal zu fliegen. Ich sah große nackte Stellen auf seiner Haut: Es hatte noch nicht genügend Federn und seine Flügel waren noch nicht kräftig genug. Ich versuchte es zu erreichen, aber meine Arme waren hart und steif, als ob sie aus Stein wären.
„Komm schon!“, riefen die Ärzte. Sie lachten. „Komm schon, Baby! Flieg!“
Doktor MacNabola hob eine glänzende Säge hoch.
Das Baby taumelte auf dem Nestrand.
Dann hörte ich einen Kauz schreien. Ich öffnete die Augen. Blasses Licht schien draußen vor meinem Fenster. Ich schaute hinunter und sah Mina in der Wildnis, die Hände vor dem Gesicht.
Huhu. Huhu huhu huhu.
„Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen“, sagte ich, als ich zu ihr hinausgeschlichen war. „Erst ganz zuletzt, als die Nacht zu Ende ging, bin ich eingeschlafen.“
„Aber jetzt bist du wach?“, sagte sie.
„Ja.“
„Träumen wir das nicht?“
„Das träumen wir nicht.“
„Träumen wir das nicht zusammen?“
„Auch wenn es so wäre, würden wir es nicht wissen.“
Die Amsel flog auf das Garagendach und begann mit ihrem Morgenlied.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren“, sagte ich.
Wir gingen zur Tür und hinein. Wir bewegten uns schnell zwischen den Möbeln hindurch. Ich leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht.
„Du musst mit uns kommen“, sagte Mina.
Er seufzte und stöhnte.
„Ich bin krank“, sagte er.
Er schaute uns nicht an.
„Ich bin todkrank“, sagte er.
Wir quetschten uns durch die Lücke zwischen den Teekisten und kauerten uns vor ihm hin.
„Du musst mitkommen“, sagte sie wieder.
„Ich bin schwach wie ein Baby“, sagte er.
„Babys sind nicht schwach“, flüsterte sie. „Hast du einmal ein Baby gesehen, das schreit, um Nahrung zu bekommen, oder das unbedingt krabbeln will? Hast du einmal ein Amseljunges gesehen, das seinen ersten Flug wagt?“
Sie legte ihre Hand unter seine Achsel. Sie zerrte an ihm.
„Bitte“, flüsterte sie.
Auch ich hielt ihn, zerrte an ihm. Wir spürten, dass er anfing sich zu entspannen und sich uns zu überlassen.
„Ich habe Angst“, krächzte er.
Mina beugte sich tief zu ihm hinunter. Sie küsste seine blasse Wange.
„Hab keine Angst. Wir bringen dich in Sicherheit.“
Seine Gelenke knacksten, als er sich bemühte aufzustehen. Er wimmerte vor Schmerz. Er stützte sich auf uns. Er taumelte und zitterte, als er aufstand. Er war größer als wir, so groß wie Papa. Wir spürten, wie dünn er war, wie außergewöhnlich leicht. Wir hatten die Arme um ihn gelegt. Unsere Finger berührten sich auf seinem Rücken. Wir erkundeten, was aus seinen Schulterblättern wuchs. Wie angewinkelte Arme fühlte es sich an. Mit einer weichen Oberfläche. Wir starrten uns in die Augen und wagten nicht, einander zu sagen, was wir zu fühlen glaubten.
„Ein außergewöhnliches, ein ganz außergewöhnliches Wesen“, flüsterte Mina.
„Kannst du gehen?“, sagte ich.
Er wimmerte, quiekte.
„Beweg dich langsam“, sagte ich. „Halte dich an uns fest.“
Ich quetschte mich rückwärts zwischen den Teekisten durch. Mina stützte ihn von hinten. Seine Füße schlurften über den kaputten Boden. Tiere krabbelten über uns. Die Garage knarrte. Staub fiel herab. Sein Atem war rasselnd und ungleichmäßig. Er schauderte. Er wimmerte leise vor Schmerz. An der Tür schloss er die Augen und drehte den Kopf vom immer heller werdenden Licht weg. Dann drehte er sich wieder um und wandte sich dem Tageslicht zu. Mit zusammengekniffenen blutunterlaufenen Augen schaute er zur Tür hinaus. Mina und ich guckten ihm ins Gesicht, das ganz blass und trocken war. Seine Haut war rau und rissig. Sein schwarzes Haar ein Gewirr von Knoten. Staub, Spinnweben, Schmeißfliegen, Spinnen, Käfer bedeckten ihn und
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