Zeit des Mondes
konzentrierte mich darauf, das Baby zu schützen.
26
„Das ist er“, sagte Mina. „Archäopteryx. Der Saurier, der fliegen konnte.“
Sie legte das schwere Lexikon auf das Gras unter dem Baum. Wir schauten uns das plumpe Wesen an. Es saß aufrecht auf einem dornigen Ast. Hinter ihm spien Vulkane Flammen und Rauch aus. Die großen Landtiere – Diplodocus, Stegosaurus – schwankten über eine steinige Ebene.
„Wir glauben, dass Dinosaurier ausgestorben sind“, sagte Mina. „Aber nach einer anderen Theorie leben ihre Nachkommen noch immer unter uns. Sie bauen ihre Nester in unseren Bäumen und Dachböden. Die Luft ist voll von ihren Liedern. Der kleine Archäopteryx hat überlebt, und mit ihm begann die Linie der Evolution, die zu den Vögeln geführt hat.“
Sie berührte die kurzen, verkümmerten Flügel.
„Flügel und Federn, siehst du? Aber das Tier war schwer und knochig. Schau dir den plumpen, schweren Schwanz an. Es konnte nur ganz kurz und schnell fliegen. Von Baum zu Baum, von Stein zu Stein. Es konnte nicht hoch fliegen und Spiralen drehen und tanzen, wie es Vögel heute können. Keine pneumatischen Knochen.“
Ich schaute sie an.
„Erinnerst du dich an nichts mehr?“, sagte sie. „Luft in den Knochen. Die Hohlräume in den Knochen der Vögel. Sie nur ermöglichen es ihnen, frei zu fliegen.“
Die Amsel flog aus dem Baum über uns und warf sich in die Höhe.
„Wenn du einen Archäopteryx halten würdest“, sagte sie, „wäre er in deiner Hand fast so schwer wie Stein. Fast so schwer wie die Tonfiguren, die ich mache.“
Ich schaute in Minas dunkle Augen. Sie waren weit geöffnet, erwartungsvoll, als wollte sie, dass ich etwas sehe oder etwas sage.
Ich dachte an das Baby auf meinem Schoß und an Skellig, wie Mina und ich ihn zwischen uns hochhoben. Ich dachte an seine Flügel und an das schnell pochende Herz des Babys.
„Die Evolution endet nie“, sagte Mina.
Sie kam langsam näher.
„Wir müssen immer bereit sein weiterzukommen“, sagte sie. „Vielleicht sind wir jetzt noch nicht so, wie wir gedacht waren.“
Sie nahm meine Hand.
„Wir sind außergewöhnlich“, flüsterte sie.
Sie schaute tief in mich hinein.
„Skellig!“, flüsterte sie. „Skellig! Skellig!“
Ich starrte sie auch an. Ich blinzelte nicht. Es war, als riefe sie Skellig tief aus meinem Inneren heraus. Es war, als sähen wir beide dorthin, von wo ihre und meine Träume kamen.
Und dann dieses Gekicher. Wir schauten auf, und da standen Leakey und Coot auf der anderen Seite der Mauer und sahen zu uns herunter.
27
„Was ist los mit dir?“, fragten sie immer wieder. „Was ist verdammt noch mal los mit dir?“
Ich war hoffnungslos schlecht. Ich war kein Stürmer mehr. Ich kriegte keinen Kopfball mehr hin. Hatte ich den Ball am Fuß, stolperte ich nur so über den Platz. Einmal fiel ich über den Ball und schürfte mir den Ellbogen am Randstein auf. Ich fühlte mich unwohl und unsicher und wollte nicht mehr, wollte nicht in unserer Straße mit Leakey und Coot Fußball spielen, während Mina mit ihrem Buch auf dem Schoß im Baum saß und uns ununterbrochen anstarrte.
„Das kommt, weil er krank gewesen ist“, sagte Leakey.
„Quatsch“, sagte Coot. „Er ist nicht krank gewesen. Er war bloß durcheinander.“ Er beobachtete mich, wie ich versuchte, den Ball auf meinen Kopf zu bringen. Er sprang mir vom Knie und fiel in den Rinnstein.
„Ich bin einfach nicht mehr in Form“, sagte ich.
„Quatsch“, sagte er. „Noch vor einer Woche konntest du jeden in der Schule schlagen.“
„Das stimmt“, sagte Leakey.
„Sie ist es“, sagte Coot. „Die im Baum. Die Kleine, mit der er zusammen war.“
Leakey grinste.
„Das stimmt“, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf.
„Quatsch“, flüsterte ich.
Meine Stimme war so unsicher wie meine Füße.
Sie kicherten.
„Es ist die Kleine“, sagte Leakey.
„Diese Kleine, die im Baum herumklettert wie ein Affe. Die im Baum sitzt wie eine Krähe.“
„Quatsch“, sagte ich.
Ich sah Leakey in die Augen. Er war seit Jahren mein bester Freund. Ich konnte nicht glauben, dass er weitermachen würde, wenn ich ihm in die Augen schaute und wollte, dass er damit aufhörte.
Er grinste. „Sie halten Händchen“, sagte er.
„Sie sagt, er sei außergewöhnlich“, sagte Coot.
„Haltet die Klappe“, sagte ich.
Ich drehte mich um, ging an unserem Haus vorbei bis ans Ende der Straße und bog in den hinteren Weg ein. Ich hörte, dass sie mir folgten. Ich
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