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Zeit des Mondes

Zeit des Mondes

Titel: Zeit des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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dich“, flüsterte Mina.
    „Lass uns dir helfen“, sagte ich.
    Er schüttelte den Kopf. Er drehte sich um und kroch auf allen vieren auf die Decken zu. In dem einfallenden Licht sahen wir seine Tränen und wie sie zu Boden fielen. Er kniete keuchend neben den Decken. Mina ging zu ihm und kniete ihm gegenüber.
    „Ich werde es dir bequemer machen“, flüsterte sie.
    Sie knöpfte seine Jacke auf. Sie wollte ihm die Jacke ausziehen.
    „Nein“, krächzte er.
    „Vertrau mir“, flüsterte sie.
    Er bewegte sich nicht. Sie zog die Ärmel von seinen Armen, nahm ihm die Jacke ab. Wir sahen, was wir beide erträumt hatten. Unter seiner Jacke waren Flügel, die durch die Risse seines Hemdes herauswuchsen. Sobald sie frei waren, entfalteten die Flügel sich. Sie waren verdreht, uneben und mit verbogenen und verkrümmten Federn bedeckt. Sie klapperten und zitterten, als sie sich öffneten. Sie waren breiter als seine Schultern, überragten seinen Kopf. Skellig ließ den Kopf hängen. Immer noch fielen Tränen herab. Er wimmerte vor Schmerz. Mina streckte ihre Hand aus, streichelte seine Stirn. Sie reichte mit der Hand noch weiter zu ihm hinüber und berührte die Federn mit den Fingerspitzen.
    „Du bist schön“, flüsterte sie.
    „Lasst mich schlafen“, krächzte Skellig. „Lasst mich heimgehen.“
    Er lag mit dem Gesicht nach unten und seine Flügel zuckten, als sie sich weiter entfalteten und formten. Wir zogen die Decken unter den Flügeln hindurch über Skelligs Körper, spürten seine Federn auf unseren Händen. Bald beruhigte sich Skelligs Atem und er schlief ein. Säusel kuschelte sich eng an ihn, schnurrte.
    Wir starrten einander an. Meine Hand zitterte, als ich sie nach Skelligs Flügeln ausstreckte. Ich berührte sie mit den Fingerspitzen. Ich legte meine Handflächen auf sie. Ich spürte die Federn und darunter die Knochen und Sehnen und Muskeln, die sie hielten. Ich hörte Skelligs Atem rasseln.
    Auf Zehenspitzen ging ich zu den Fensterläden und starrte durch die schmalen Ritzen hinaus.
    „Was machst du?“, flüsterte sie.
    „Ich schau nur, ob die Welt noch da ist“, sagte ich.

25
    Die Drähte und Schläuche steckten wieder im Baby. Der Glaskasten war zu. Meine kleine Schwester bewegte sich nicht. Sie war in weiße Laken gewickelt. Ihr Haar war weich, ganz glatt und dunkel. Ich wollte es berühren, wollte ihre Haut berühren, sie weich an meinen Fingerspitzen spüren. Ihre Händchen lagen als kleine Fäuste links und rechts von ihrem Kopf. Wir sagten nichts. Ich hörte draußen die Stadt dröhnen und den Lärm des Krankenhauses. Ich hörte mich atmen, das ängstliche schnelle Atmen meiner Eltern neben mir. Ich hörte ihr unterdrücktes Weinen.
    Ich horchte weiter. Ich horchte durch all diese Geräusche durch, bis ich meine Schwester hörte, das sanfte Pfeifen ihres Atems, kaum hörbar und entfernt, als käme es aus einer anderen Welt. Ich schloss die Augen und horchte und horchte. Ich horchte immer intensiver, bis ich glaubte, ihr Herz schlagen zu hören. Ich sagte mir, wenn ich nur aufmerksam genug horchte, könnten ihr Atmen und ihr Herzschlag nie aufhören.
    Papa hielt mich an der Hand, als wir durch die Gänge zum Parkplatz gingen. Wir kamen am Aufzugschacht vorüber, und die Frau von oben wankte mit der Gehhilfe heraus. Sie schnappte nach Luft, lehnte sich auf ihr Gestell und grinste mich an.
    „Dreimal um jeden Treppenabsatz und dreimal im Lift auf und ab“, sagte sie. „Kaputt. Völlig kaputt.“
    Papa blinzelte und nickte ihr freundlich zu.
    „Ich werde es verdammt noch mal schaffen“, sagte sie. Sie wackelte in ihrem Gestell herum. „Bald werde ich tanzen, du wirst sehen!“
    Sie tätschelte mit ihrer gekrümmten Hand meinen Arm.
    „Du bist so traurig heute. Warst du bei deinem Freund?“
    Ich nickte und sie lächelte.
    „Ich gehe bald heim. Er auch. Bleib in Bewegung, das ist die Hauptsache. Bleib fröhlich.“
    Sie humpelte weg und sang vor sich hin „Lord of the Dance.“
    „Wen meinte sie mit ‚deinem Freund‘?“, fragte Papa.
    „Niemand.“
    Er war zu zerstreut, um noch einmal zu fragen.
    Im Auto sah ich, dass ihm die Tränen über das Gesicht liefen.
    Ich schloss die Augen. Ich erinnerte mich an das Atmen des Babys, an seinen Herzschlag. Ich hörte nicht auf, daran zu denken, darauf zu hören. Ich berührte mein Herz und fühlte, wie das Herz meiner Schwester neben meinem schlug. Verkehr brauste vorüber, Papa hielt seine Tränen zurück. Ich blieb ganz still und

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