Zeit für Eisblumen
herausragte, verrieten seine wahre Absicht. Demonstrativ blickte ich auf seine Körpermitte.
„Na gut“, gab er zu. „Ich habe Aktienkurse gecheckt.“
Ich verzog spöttisch den Mund.
Auch seine Mundwinkel schoben sich ein wenig nach oben. Einige Augenblicke schauten wir uns in stiller Übereinkunft an. So war es schon immer gewesen. Zu meinem Vater hatte ich eine besondere Beziehung. Wahrscheinlich, weil wir „aus dem gleichen Holz geschnitzt waren“, wie Milla behauptete.
Er trat zu mir heran und schweigend blickten wir in die laue Spätsommernacht. Musik und Stimmen wurden vom Plätschern des Mühlrades verschluckt und ein sichelförmiger Mond tauchte den Garten in ein milchiges Licht. Rittersporn, Hortensien und Wicken rauschten sacht im Wind. Es war friedlich hier draußen und ich wünschte mir, wie so oft in letzter Zeit, zehn Jahre alt zu sein und mich in der sorglosen Gewissheit zu sonnen, dass mein Vater alles, was in meinem Leben schief lief, richtete.
Als wir in den Saal zurückkamen, schoss Lilly gefolgt von Mia auf uns zu. Jemand, der sie nicht kannte, würde die beiden nie für Zwillinge halten. Lilly hatte rote Kraushaare, war mollig, klein und süß wie ein Erdbeertörtchen mit Schlagsahne. Mia dagegen bestand ausschließlich aus Ecken und Kanten und erinnerte mich in ihren schwarzen Kleidern an eine magersüchtige Krähe. Das einzig Leuchtende an ihr waren die kurzen, platinblond gefärbten Haare.
„Wo wart ihr? Wir haben euch gesucht!“, rief Lilly. „Gleich beginnt das Feuerwerk.“
„Ist es schon so spät?“ Überrascht blickte ich auf meine Armbanduhr. „Ja, fast elf. Die meisten sind bereits auf dem Parkplatz. Wir haben nur noch auf euch gewartet.“
Tatsächlich war der Saal bis auf Sam, der mit dem schlafenden Paul auf dem Arm hin und her wanderte, menschenleer.
„Der kleine Mann hat genug für heute. Ich bringe ihn nach Hause. Soll ich auf dich warten oder nimmst du dir später ein Taxi?“, fragte er mich.
„Nein, nein. Ich schaue mir nur noch das Feuerwerk an, danach können wir los.“ Auf einmal war ich hundemüde und wollte nur noch ins Bett.
Als ich den Parkplatz betrat, wurden unter vielen „Oohs“ und „Aahs“ die ersten Raketen abgeschossen. Helle sternförmige Strahlen erhellten den Nachthimmel, vom Boden schossen blaue Lichterfontänen empor, deren Spitzen rot glühten. Gleich darauf war der gesamte Himmel von bunten Lichtkaskaden bedeckt. Begleitet wurden sie von den anschwellenden Klängen von Vivaldis „L´Estate“. In der Luft lag ein durchdringender Schwefelgeruch, den ich liebte, weil er mich an Jahreswechsel und Neuanfang erinnerte. Ich ging zu Helga, die sich ein wenig abseits der Menge hielt. Nils stand hinter ihr und hatte die Arme um sie gelegt.
„Das Baby ist von dem Krach aufgewacht und rockt in meinem Bauch herum“, sagte sie, als sie mich bemerkte. „Magst du dein Patenkind fühlen?“
Ich nickte und Helga presste meine Hand an ihren Kugelbauch. Sanft fuhr ich über die kleine Erhebung. Das Baby begann zu treten. Plötzlich stieg eine ungeahnte Zärtlichkeit für dieses winzige, mir noch unbekannte Wesen auf.
„Bald lernen wir uns kennen.“ Ich tippelte mit meinen Fingern gegen Helgas Bauch. Helga lächelte und drückte mich an sich. Der Schwefelgeruch in der Luft, die Bewegungen des Babys unter meinen Händen. Irgendwie würde ich alles schon schaffen.
Nachdem der letzte Lichtfunken verglüht, Vivaldis letzte Note verklungen war, erschien mein Vater auf der Bildfläche, eingehakt von Lilly und Mia. Um seinen Hals hing seine Spiegelreflexkamera. Lilly hielt eine Sektflasche in der Hand, Mia fünf Gläser.
„Wo ist denn unsere Mutter?“, fragte ich.
„Sie schmollt, weil Papa sich geweigert hat, mit ihr zu tanzen.“ Mia verdrehte die Augen.
„Kommt her! Damit ich diesen historischen Augenblick, in dem die erste meiner Töchter in den Hafen der Ehe einläuft, endlich aufs Papier bannen kann.“ Aufgekratzt zückte mein Vater seine Kamera. „Anschließend stoßen wir alle zusammen auf Lilly an.“
Wir stellten uns unter einem großen Ahornbaum in Position. Helga, zwei Hände fest um ihren Babybauch geschlungen, Lilly in ihrem voluminösen Brautkleid, Mia mit ihrer Irokesenfrisur und ich. Wir sahen glücklich aus in diesem Moment.
Aber irgendeine unheilvolle Ahnung sagte mir, dass zumindest ich es nicht bleiben würde.
„Guten Morgen!“, flötete Monika mir zu, kaum dass ich das Großraumbüro der Redaktion betreten
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