Zeit für Eisblumen
du?“
„Darf ich mich nicht erkundigen, wie es dir geht?“, fragte Mia beleidigt.
„Doch, aber du erkundigst dich normalerweise niemals nach meinem Befinden. Es sei denn, ich habe Bauchschmerzen und es besteht die Hoffnung, dass sich daraus eine Blinddarmentzündung entwickelt.“
„Mein Gott, bist du zynisch“, sagte Mia.
Auch Milla schaute mich merkwürdig an. Ich verließ wortlos das Zimmer und lehnte mich draußen im Gang gegen ein Fensterbrett. „Es tut mir leid. Aber mir ist momentan nicht nach Small Talk und du meldest dich grundsätzlich nur bei mir, wenn du etwas von mir willst. Also, was ist es dieses Mal? Möchtest du dir mein Auto leihen? Die Autoschlüssel hängen bei unseren Eltern am Schlüsselbrett. Brauchst du Kondome? In der untersten Schreibtischschublade in Helgas und meinem alten Zimmer müssten noch welche liegen, gleich hinter dem Notizblock und dem Fass mit Tintenpatronen. Oder willst du …?“
„Nein, schon gut“, unterbrach sie mich. „Du hast schlechte Laune. Am besten rufe ich morgen noch einmal an!“
„Nein, sag es mir gleich. Dann habe ich es hinter mir. Ich bemühe mich auch, höflich zu bleiben.“
„Na gut. Also, äh, ja …“
Ich verdrehte die Augen. Diese ganzen Ähs und Jas waren normalerweise nicht Mias Art.
„Also, ich sag es dir jetzt einfach“, kam sie schließlich zum Punkt. „Ich habe Sam heute mit einer anderen Frau in der Stadt gesehen. So jetzt weißt du es.“
Das saß. Ich brauchte einige Augenblicke, bis ich auf diese Eröffnung etwas erwidern konnte.
„Könnte es eine seiner Kolleginnen gewesen sein?“, fragte ich zaghaft. Eine Schwester hatte Sam leider nicht.
„Na ja, das weiß ich natürlich nicht“, meinte Mia zögernd. „Aber wenn es eine Kollegin von ihm war, dann wirkten die beiden sehr vertraut miteinander.“
„Was heißt vertraut?“ Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
„Er hat seinen Arm um sie gelegt und sie … Willst du wirklich die schonungslose Wahrheit wissen?“
Nein, wollte ich nicht. Aber der masochistische Teil meines Ichs drängte mich dazu, nachzubohren.
„Was hat sie getan? Hat sie ihn ausgezogen und sich auf dem Tisch eines Restaurants rittlings auf ihn gesetzt? Oder hast du sie erwischt, wie sie ihm einen geblasen hat? Sag’s ruhig! Ich werde es überleben“, meinte ich lässig.
„Nein, so schlimm war es nicht“, entgegnete Mia. „Sie hat ihre Hand in die Tasche seiner Jeans gesteckt. Die an seinem Po, bevor du auf weitere schlimme Gedanken kommst.“
Ich schnappte nach Luft. Eine Hand, die sich zärtlich in einer Gesäßtasche einhakte, erschien mir ungleich intimer als schmutziges Fellatio in einer dunklen Seitengasse.
„Wie hat die Frau denn ausgesehen?“, erkundigte ich mich. Mein Herz schlug auf einmal wie verrückt.
„Klein, dick, mit einem riesigen Muttermal auf der Wange.“
„Echt?“ Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Nein“, sagte Mia. „Ziemlich groß, ziemlich dünn und ziemlich blond. Es tut mir leid. Die erste Version hätte mir auch besser gefallen“, fügte sie bedauernd hinzu. „Soll ich Sam etwas antun? Ich könnte ihm zum Beispiel auf der Straße auflauern und ihn mit blauer Farbe besprühen oder einen Backstein nach ihm werfen. Oder das Foto, auf dem Sam nackt am Grill steht, ins Internet stellen.“
„Das Foto ist schon ein paar Jahre alt und Sam war damals total betrunken. Und du hast ihm hoch und heilig versprochen, es zu löschen“, gab ich zu bedenken. Warum nahm ich diesen Mistkerl eigentlich in Schutz?
„Ja, hab ich. Aber jetzt zeigt sich, warum es nie schadet, solch kompromittierendes Bildmaterial zu behalten.“
Für einen schwachen Moment dachte ich darüber nach, Mias Vorschlag anzunehmen. Doch schweren Herzens entschied ich mich dagegen. Ich wollte nicht, dass sie mir zuliebe etwas Illegales tat. Obwohl natürlich das Nacktfoto …
„Mia, hast du dir schon mal meine Sendung angeschaut?“, fragte ich sie.
„Nein, du weißt genau, dass mich der Scheiß, den du beruflich machst, nicht interessiert.“ Jetzt klang sie viel mehr wie sie selbst als die stammelnde, mitfühlende Version von zuvor.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du nett zu ihr sein sollst“, hörte ich Lilly im Hintergrund keifen. „Gib mir das Handy!“
„Ich war nett, aber sie wollte ja unbedingt die schonungslose Wahrheit hören“, entgegnete Mia mürrisch.
„Gib mir das Handy!“ Die sonst so liebliche Stimme meiner jüngsten Schwester klang drohend.
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