Zeit für Eisblumen
meiner vielen Fragen am dringendsten nach einer Antwort verlangten, als all diese Gesichter in einer Spirale verschwammen, die mich tiefer und tiefer zog, um in einer gigantischen Lichtkaskade zu zerbersten …
„Fee!“ Milla schaute von oben auf mich herunter. Sie trug Paul auf dem Arm und sah besorgt aus. „Was ist mit dir?“ Sie kniete sich neben mich und rüttelte an meiner Schulter.
Ich schaute sie verwirrt an.
Wenig später hörte ich sie mit meiner Frauenärztin telefonieren. „Sie isst nichts, sie schläft nicht, sie reagiert überhaupt nicht auf ihr Kind. Sie sitzt einfach nur da und starrt vor sich hin. Zuerst dachte ich, sie wäre nur müde von der Geburt, aber jetzt …“ Sie dämpfte ihre Stimme.
Ich hasste es, wenn hinter meinem Rücken über mich gesprochen wurde, und ich hasste es, schwach zu sein. Doch drei Nächte ohne Schlaf waren zu viel gewesen. Ich hatte gedacht, ich würde verrückt werden. In meinem Kopf drehte sich alles und je mehr ich versuchte, mich zu entspannen, desto stärker verkrampfte ich. Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, mich vom Balkon zu stürzen, um den tobenden Gedanken in meinem Gehirn zu entfliehen und um endlich die Ruhe zu bekommen, nach der mein Körper und mein Geist so sehr verlangten, doch letztendlich hielt mich meine Lethargie von diesem Schritt ab. Es kostete mich schier unglaubliche Überwindung, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ja überhaupt nur meinen Arm zu bewegen. Ich war überfordert damit, meinem Sohn einen Body anzuziehen. Wie sollte ich in dieser Situation ernsthaft versuchen, auf eine Brüstung zu klettern und von dort hinunterzuspringen?
Letztendlich war ich nur in Ohnmacht gefallen. Direkt vor die Füße meiner Mutter. Und obwohl ich mich dafür schämte, war ich froh, dass es passiert war. Niemand aus meiner Familie, ja nicht einmal meine Hebamme und meine Frauenärztin hatten meine Ängste und Zweifel ernst genommen, doch nun konnten sie ihre Augen nicht länger davor verschließen. Mit mir stimmte etwas ganz und gar nicht.
Als ich neben meinem Vater im Sprechzimmer von Dr. Mertens saß und dieser von mittelschwerer postnataler Depression sprach, von Abstillen und von Antidepressiva, war ich überzeugt, am absoluten Tiefpunkt angekommen zu sein. Dr. Mertens schien zu glauben, dass ich krank war und dass man diese Krankheit mit Tabletten heilen konnte, ich aber wusste es besser. Ich war nicht krank. Ich hatte mich schuldig gemacht und die Hölle, durch die ich ging, war die Strafe dafür.
Ich schreckte hoch. Mein Herz raste. Und für einen Moment befürchtete ich, dass die Angst mich mit sich riss. Ein Panikanfall! Allein dieser Gedanke löste ein so unglaubliches Gefühl des Entsetzens in mir aus, dass ich es kaum schaffte, mich auf den Beinen zu halten. Nicht schon wieder! Und nicht gerade hier. Nicht vor David und diesen kichernden Mädchen. Ich bemühte mich, gegen den Schraubstock in meiner Brust ruhig ein- und auszuatmen und richtete meine Aufmerksamkeit mit ganzer Kraft auf die Umgebung. Die verkrüppelten Bäume, die mit Moos bedeckten Steine, die tanzenden Sonnenpünktchen. Es funktionierte. Langsam lichtete sich der nebulöse Schleier vor meinen Augen. Ich entspannte mich und auch mein Herzschlag beruhigte sich nach und nach. David stand mit Maja, Harry und seinen Reitschülerinnen nur wenige Meter von mir weg und beobachtete mich. Keinem von ihnen schien etwas aufgefallen zu sein.
„Anscheinend bin ich nicht rein genug, um eine Antwort vom kleinen Volk zu bekommen“, sagte ich mit zittriger Stimme.
Ich stand auf, torkelte auf Harry zu und versuchte, allein auf seinen Rücken zu klettern. Zu meiner großen Überraschung schaffte ich es auch. „Es ist nichts passiert. Es ist überhaupt nichts passiert“, wiederholte ich immer wieder. „Es waren nur meine Nerven, die verrückt gespielt haben.“ Noch einmal würde ich mir nicht mein Leben kaputtmachen lassen.
Als wir wieder beim Stall angekommen waren und ich Harry Sattel und Zaumzeug abgenommen hatte, trat David an mich heran.
„Hast du heute Abend schon etwas vor? Eva, ich und ein paar Kumpels fahren nach Galway. Wenn du magst, kannst du mitkommen.“
„Gib mir deine Nummer, ich ruf dich an!“, sagte ich so cool wie möglich.
Als ich zur Hill Bar zurückkehrte, war ich fix und fertig. Das Wiedersehen mit David. Der Ausritt. Dieser Anflug von Panik, der mich am Elfenhügel erfasst hatte. Nass geschwitzt und mit schmerzenden Gliedern betrat ich
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