Zeit für Eisblumen
fahren konnte. Stattdessen saß ich in dieser schäbigen Dorfkneipe fest und musste untalentierten Iren dabei zuhören, wie sie „Country Roads“ oder „Summer of ’69“ ins Mikrofon grölten. Ob ich wollte oder nicht. Denn obwohl ich nicht vorhatte, an der Veranstaltung teilzunehmen, würde ich in meinem Zimmer wahrscheinlich alles davon mitbekommen und vor drei Uhr nachts kein Auge zumachen. Ach! Das war doch ätzend. Wütend trat ich eine leere Dose Guinness vor mir her.
Ich beschloss, meine Mutter zu suchen.
Durch den Türspalt unseres Zimmers konnte ich einen Blick auf das Reisebett werfen, in dem Paul mit weit geöffneten Armen auf dem Rücken lag und vor sich hinschnarchte. Hin und wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Kaum mehr als ein Zucken.
„Der kleine Engel“, dachte ich entzückt und wurde für einen Moment weich. Wenigstens er war mir geblieben!
Doch dann fiel mein Blick auf meine Mutter. Sie saß an dem Tisch mit dem Spiegel und kämmte sich. Dabei bewegte sie ihre Bürste mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen durch die Haare und summte leise ein Lied. Ihre Gesichtszüge wirkten entspannter als in den letzten Tagen. Kein Wunder! Wahrscheinlich war sie schon in Gedanken bei der heißen Nacht, die sie mit dem heruntergekommenen Stones-Verschnitt erwarten würde. Nur zusammen essen gehen! Klar! Das konnte sie jemand anderem erzählen. Schließlich war ich nicht mehr zwölf. Am liebsten wäre ich zu ihr gegangen und hätte ihr tüchtig die Meinung gesagt, doch etwas hielt mich davon ab und brachte mich dazu, sie weiter zu beobachten.
Nachdem Milla ihre Locken im Nacken zusammengefasst hatte, kramte sie in einem Koffer mit Burberry-Muster einen Make-up-Spender hervor. Sie gab einen Spritzer der hellbraunen Flüssigkeit auf ihren Handrücken, nahm einen Pinsel und begann, sie in ihre Haut einzuarbeiten.
Als kleines Mädchen hatte ich meine Mutter oft dabei beobachtet, wie sie sich zurechtmachte, und ihr Schminkkoffer erinnerte mich stets an den Requisitenkasten eines Zauberers, dessen Inhalt mir umso erstrebenswerter erschien, da es meinen Schwestern und mir streng verboten war, darin herumzukramen. Nur wenn sie besonders gut gelaunt war, durfte ich einen Blick in die geheimnisvollen Döschen und Tuben werfen und daran riechen.
Heute hatte dieser Koffer überhaupt nichts Verzaubertes mehr an sich. Und sein Inhalt diente nicht mehr dazu, meine Mutter in eine wunderschöne Prinzessin zu verwandeln, sondern vielmehr sie wie eine ältere Kopie von Sharon Stone aussehen zu lassen. Ich stieß die Tür auf und ging auf Milla zu. Im Spiegel konnte ich erkennen, wie sich mein Gesicht ihrem näherte. Jünger, noch glatter und runder, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar. Ich wandte meinen Blick ab.
„Dein Verehrer sitzt unten im Pub und wartet auf dich. Was hast du so lange gemacht?“
Milla zuckte zusammen. Sie runzelte ärgerlich die Stirn.
„Kannst du nicht anklopfen? Ich habe heiß geduscht und darauf gewartet, dass sich meine Rückenmuskulatur wieder entkrampft. Diese irischen Betten sind die Hölle.“ Sie fuhr mit einer dicken Puderquaste über ihr Gesicht. „Du scheinst dich aber auch ohne mich gut amüsiert zu haben“, fügte sie spitz hinzu. „Wie viele Guinness hast du schon getrunken?“
„Und wie viele Schminkschichten möchtest du noch auflegen, um Keith Richards zu betören?“
Milla legte die Quaste hin und schaute mich über den Spiegel hinweg mitleidig an. „Ich möchte einen netten Abend verbringen. Mehr nicht.“
„Aber warum mit diesem alten Sack? Du kennst ihn überhaupt nicht. Vielleicht ist er ein Perverser, der kleinen Mädchen nachstellt oder heimlich in Frauenkleidern herumrennt.“
Mit unbewegter Miene tupfte sich Milla einen Tropfen Parfüm hinter das Ohr. Sie stand auf. „Ich gehe nach unten.“
Ich folgte ihr.
In der letzten Stunde hatte sich der Pub merklich gefüllt. Karaokeveranstaltungen schienen bei den Iren in der Tat sehr beliebt zu sein. Menschen aller Altersstufen tummelten sich in dem kleinen Raum und mehrere von ihnen studierten die Songlisten, die Cullen auf den Tischen verteilt hatte. Zwei Frauen mittleren Alters mit breiten Hüften und straff gewickelten Dauerwellen quälten sich mehr schlecht als recht durch Kenny Loggins „Welcome to Heartlight“, doch die Menge jubelte ihnen dennoch zu und grölte beim Refrain begeistert mit.
Milla steuerte sofort auf die Theke zu, an der Ian sich immer noch mit dem feisten Bauern
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