Zeit, gehört zu werden (German Edition)
man wohl kaum von einer »Flucht« sprechen.
Als Mignini den Verteidigern vorwarf, sie würden Patrizia Stefanonis Kriminaltechniker verleumden, zitierte er den NS-Propagandaminister Joseph Goebbels mit seinem berühmten Ausspruch: »Wenn man genügend Dreck wirft, bleibt immer etwas hängen.«
Die stellvertretende Staatsanwältin Manuela Comodi zerriss die Aussage der unabhängigen Gutachter in der Luft. »Sie haben unser Vertrauen durch falsche Fakten enttäuscht«, sagte sie. »Ihre ganze Art war aggressiv, und dabei hätten sie unparteiisch sein sollen.«
Dann fügte sie, auf Raffaele und mich bezogen, hinzu: »Sie sind jung, aber das war Meredith auch. Sie sind jung, aber sie haben getötet. Sie haben wegen nichts getötet, und deshalb müssen sie zur Höchststrafe verurteilt werden. Zu ihrem Glück wurde die Todesstrafe in Italien abgeschafft.«
Carlo Pacelli, Patricks Anwalt, betonte erneut, dass ich eine »Meisterin der Täuschung« sei.
Francesco Maresca, der Anwalt der Kerchers, wandte in seinem Plädoyer die Schocktaktik an. Obwohl die Kerchers gebeten hatten, in Anwesenheit von Journalisten keine Aufnahmen von Merediths nacktem, geschundenen Körper zu zeigen, projizierte Maresca diese Bilder auf eine Leinwand. Er wollte demonstrieren, wie Meredith gelitten hatte, damit das Gericht uns nicht wegen einer »Formsache« davonkommen ließ.
Merediths Mutter und ihre Schwester könnten es sich nicht leisten, zum Berufungsverfahren anzureisen, würden jedoch zur Urteilsverkündung in Perugia sein. »Sie werden Ihnen in die Augen sehen … und mit ihrem Blick werden sie Sie bitten, das frühere Urteil zu bestätigen.«
Es war schmerzhaft, mit anzuhören, wie die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger forderten, Meredith und ihren Eltern müsse Gerechtigkeit zuteilwerden, indem man uns lebenslänglich einsperrte.
Das ist keine Gerechtigkeit! Bitte verwechseln Sie das nicht! Die Staatsanwaltschaft selbst hatte Gerechtigkeit verhindert, als sie Guede mit einer geringeren Strafe davonkommen ließ, als er verdient hätte.
Raffaeles Anwältin Giulia Bongiorno wies auf einen anderen Mangel an Gerechtigkeit hin. Sie sprach über das Phänomen falscher Geständnisse. »Das ist Amanda Knox passiert.«
Sie verglich mich mit Jessica Rabbit aus dem Film Falsches Spiel mit Roger Rabbit . »Ich bin nicht schlecht – ich bin nur so gezeichnet.«
Luciano bezeichnete mich als »diese junge Freundin«. »Amanda hat keine Angst. Ihr Herz ist voller Hoffnung. Sie hofft, nach Hause zu kommen. Ich wünsche es ihr«, sagte er. »Ich glaube, ich werde gleich weinen … Sie ist so tapfer, Amanda.«
Die Ungewissheit machte mich verrückt.
Ich wollte mir James’ Gitarrenkonzert an der University of Washington anhören, ich wollte mit meinen Zwillingscousins Izzy und Nick deren sechsten Geburtstag feiern und dabei sein, wenn meine kleine Schwester Delaney die Mittelstufe abschloss. Ich wollte nach draußen gehen können, wann immer ich Lust dazu hatte; ich wollte das Gras unter meinen Füßen spüren und Sushi essen.
Mein Tagebuch teilte ich mit Hilfe von Linien in Spalten auf. Auf einer Seite standen die Dinge, die ich tun würde, wenn ich jetzt freikäme. Auf der anderen Seite standen die Dinge, die ich tun würde, wenn ich mit sechsundvierzig freikäme. Links schrieb ich Folgendes:
1. Mit Madison in eine Wohnung ziehen
2. Meinen Abschluss an der University of Washington machen
3. Laura in Ecuador besuchen
4. Schreiben
5. Fließend Deutsch lernen, damit ich mit Oma reden kann
6. Mit meiner Familie zum Campen und Wandern gehen
7. Meiner Familie alles zurückzahlen, was sie aufwenden musste, um mich hier rauszuholen (über eine Million Dollar)
8. Irgendwann heiraten und eine eigene Familie gründen
In der anderen Spalte stand:
1. Antrag auf eine Verlegung nach Rom, wo die Bedingungen für Häftlinge mit langjährigen Haftstrafen besser sind
2. Mich auf meine Anhörung vor dem Kassationsgericht vorbereiten und versuchen, das Verfahren an einem anderen Gerichtsort neu aufzurollen
3. Per Fernstudium einen Abschluss an der University of Washington machen (ist das überhaupt möglich?)
4. Schreiben
5. Mit meiner Familie und meinen Freunden so viel wie möglich in Kontakt bleiben
6. Wegen guter Führung die Haftdauer um fünf Jahre verkürzen
7. Im Gefängnis als Putzfrau, Bibliotheksmitarbeiterin oder in der Lebensmittelausgabe arbeiten
8. Meinen Lohn nach Hause schicken, um meine Eltern bei der Rückzahlung zu
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