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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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Nachmittag, zu heiß, um sich tagsüber überhaupt zu bewegen, fast zu heiß zum Denken. Ich schrieb viele Briefe an James und andere Freunde in Seattle und an Laura in Neapel. Ich las. In Gedanken spielte ich die vier möglichen Szenarien durch, wenn Richter Hellmann mein Urteil verlas. Lebenslänglich? Sechsundzwanzig Jahre Haft? Strafminderung? Freispruch? Gegen meine mir selbstauferlegten Regeln zählte ich die Tage bis zum 5. September. Ich wusste, dass ich das nicht tun sollte. Es ließ die siebenunddreißig Tage bis zum nächsten Sitzungstermin im Schneckentempo vergehen.
    Endlich kam der September, und im Gerichtssaal gelang es mir, meine Hypernervosität ein wenig in den Griff zu bekommen. Es ging voran. Sich auf das zu konzentrieren, was im Augenblick passierte, war immer noch besser als warten.
    Die Staatsanwaltschaft berief zwei weitere rechtsmedizinische Gutachter. Sie sollten bescheinigen, dass man nur dann von einer Kontamination sprechen könne, wenn man genau angeben könne, wo, wann und wie sie passiert sei.
    Sarah Gino, eine DNA-Expertin der Verteidigung, erklärte mit Nachdruck, Patrizia Stefanoni habe von Anfang an Daten zurückgehalten.
    Unser nächster Experte, Carlo Torre, sagte aus, die DNA-Tester der Polizei hätten kein Blut auf Raffaeles Küchenmesser gefunden.
    Allerdings hatten die unabhängigen Gutachter Spuren von Kartoffelstärke gefunden. Wäre das Messer mit einem Bleichmittel gereinigt worden, wie die Staatsanwaltschaft behauptete, hätte sich keine Stärke darauf befinden dürfen. Außerdem hätte ein Bleichmittel das Blut nicht vollkommen abgewaschen, sofern es sich überhaupt auf dem Messer befand.
    Die Staatsanwaltschaft forderte eine neue, unabhängige Untersuchung des Messers, aber Richter Hellmann wies den Antrag ab. Stattdessen setzte er den Termin für die Schlussplädoyers und das Urteil auf den 3. Oktober fest.
    Bis zum Termin der Urteilsverkündung gab es wieder eine kleine Unterbrechung.
    In einem Anfall von Optimismus überlegte ich, welche meiner Habseligkeiten ich im Fall eines Freispruchs mitnehmen würde. Meine Jeans und Sweatshirts, die ich mit dem Gefängnis verband, und den ganzen Kram, den ich für den Alltag im Gefängnis brauchte – meinen Campingkocher, Töpfe und Pfannen, Stifte, Papier, Textmarker –, würde ich in Capanne lassen. Ich gab Chris bei jedem Besuch Bücher mit. Im Laufe der Wochen waren es zwölf Schachteln, jede mit zwanzig bis dreißig Büchern.
    Das Packen machte mich nervös. Ich hatte es schon einmal gemacht und musste dann wieder zurück ins Gefängnis. Es war peinlich, vor den Augen der Wärterinnen und Mithäftlinge zu packen, die es wahrscheinlich für sinnlos hielten. Manche fieberten mit mir, andere zogen sich zurück. Sowohl die Wärterinnen als auch die Mithäftlinge nahmen mir das Versprechen ab: »Du musst uns schreiben. Du darfst uns nicht vergessen.«
    Zwar hatte ich vor, mit Don Saulo und Laura in Kontakt zu bleiben, aber das Gefängnisleben wollte ich nicht mit in die Freiheit nehmen.
    Wenn sich meine Hoffnungen endlich erfüllten, würde ich vorbereitet sein. Meine Habseligkeiten befanden sich in der Segeltuchtasche in der Zelle. Aber die Fotos meiner Angehörigen und Freunde hatte ich nicht eingepackt. Ich musste sie in meinen einsamen Momenten ansehen – und wenn es am Ende nicht gut ausging, wollte ich sie ganz nah bei mir haben.

    Die Schlussplädoyers begannen am 23. September mit dem Oberstaatsanwalt von Perugia, Giancarlo Costagliola, und Mignini, die weiterhin behaupteten: »Alle Indizien deuten auf nur ein mögliches Ergebnis hin.« Die beiden forderten die Schöffen auf, sich nicht durch den Rummel in den Medien beeinflussen zu lassen, die Raffaeles und meine Freilassung forderten. Sie sollten unsere Verurteilung bestätigen und die Kerchers nicht vergessen. Mignini sagte: »Wenn Sie wollen, glauben Sie weiterhin, dass Rudy Guede ein Einzeltäter ist, aber wir glauben nicht an Märchen, und das Gericht auch nicht.«
    Ich hatte mich auf die detaillierte Schilderung dessen, was ich angeblich zu Meredith gesagt und wie ich sie getötet hatte, eingestellt, aber trotzdem tat es weh. Jedes Wort war wie ein Messerstich.
    Als weiteren Beweis für meine Schuld brachte Mignini vor, dass ich nach einem Freispruch »Italien fluchtartig verlassen« würde.
    Seine Formulierung stimmte nicht ganz. Nach vier Jahren unschuldig im Gefängnis wäre ich zur Not mit einem Boot nach Hause gerudert. Aber bei einem Freispruch konnte

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