Zeit im Wind
Jamie doch fast normal.
Als ich sie am nächsten Abend nach Hause brachte, fragte sie mich nach meinem Vater.
»Er ist soweit in Ordnung«, erwiderte ich. »Nur daß er nicht viel da ist.«
»Vermißt du ihn? Macht es dich traurig, weil du ohne ihn auskommen mußt?«
»Manchmal.«
»Ich vermisse meine Mom«, sagte sie, »obwohl ich sie gar nicht gekannt habe.«
Zum ersten Mal überhaupt kam es mir in den Sinn, daß Jamie und ich möglicherweise etwas gemeinsam hatten. Das mußte ich erst mal verdauen.
»Es muß schwer für dich sein«, sagte ich und meinte es aufrichtig. »Mein Vater ist mir zwar ziemlich fremd, aber er ist doch immerhin da.«
Sie sah mich von der Seite her an, dann richtete sie den Blick wieder nach vorn. Sie zupfte ein bißchen an ihrem Haar. Mir war inzwischen aufgefallen, daß sie das immer dann tat, wenn sie nervös war oder nicht wußte, was sie sagen sollte.
»Das ist es auch, manchmal. Versteh mich nicht falsch - ich liebe meinen Vater von ganzem Herzen, aber ab und zu versuche ich mir vorzustellen, wie es wohl gewesen wäre, wenn meine Mutter dagewesen wäre. Ich glaube, mit ihr hätte ich über manches sprechen können, über das ich mit meinem Vater nicht sprechen kann.«
Ich nahm an, sie meinte, über Jungen. Erst später erfuhr ich, wie sehr ich mich da geirrt hatte.
»Wie ist es denn, mit deinem Vater zu leben? Ist er zu Hause so wie in der Kirche?«
»Nein. Eigentlich kann er ganz schön witzig sein.«
»Hegbert?« platzte es aus mir heraus. Das konnte ich mir nun gar nicht vorstellen.
Ich glaube, sie war unangenehm berührt, weil ich ihn beim Vornamen nannte, aber sie machte keine Bemerkung dazu. Statt dessen sagte sie: »Wieso bist du so überrascht? Du wirst ihn mögen, wenn du ihn erst richtig kennenlernst.«
»Ich bezweifle, daß ich ihn je kennenlernen werde.«
»Du weißt nie, was Gott mit uns vorhat, Landon«, sagte sie lächelnd.
Ich mochte es überhaupt nicht, wenn sie so sprach. Man wußte ja, daß sie täglich mit Gott in Verbindung stand, aber man konnte nie wissen, was der BOSS DA OBEN ihr erzählt hatte. Vielleicht hatte sie sogar eine direkte Eintrittskarte zum Himmel, sozusagen, wo sie doch so ein guter Mensch war.
»Wie sollte ich ihn kennenlernen?« fragte ich.
Sie antwortete nicht, lächelte aber vor sich hin, als wüßte sie ein Geheimnis, das sie mir nicht anvertrauen konnte. Wie gesagt, ich mochte es gar nicht, wenn sie so war.
Am nächsten Abend sprachen wir über ihre Bibel.
»Warum hast du sie immer dabei?« fragte ich.
Ich hatte angenommen, daß sie die Bibel aus dem einfachen Grunde bei sich trug, weil sie die Tochter des Pfarrers war. Die Vermutung lag ja nicht so fern, wenn man bedachte, wie Hegbert zur Heiligen Schrift stand und so. Aber die Bibel, die sie hatte, war alt, mit einem ziemlich zerschlissenen Einband, und eigentlich hatte ich gedacht, daß Jamie zu den Leuten gehörte, die jedes Jahr eine neue Bibel kaufen würden, einfach nur, um die Bibelverlage zu unterstützen oder ihre unverminderte Hingabe an den Herrn zu demonstrieren oder so etwas.
Sie wartete einen Moment, bevor sie antwortete.
»Sie gehörte meiner Mutter«, sagte sie dann schlicht.
»Oh…«, sagte ich, als hätte ich versehentlich das kostbare kleine Haustier eines anderen mit dem Stiefel zertreten.
Sie sah mich an. »Es macht doch nichts, Landon. Wie hättest du das wissen sollen?«
»Es tut mir leid, daß ich davon angefangen habe…«
»Das braucht es nicht. Du hattest doch nichts Böses im Sinn.«
Sie machte eine Pause. »Meine Mutter und mein Vater haben diese Bibel zur Hochzeit geschenkt bekommen, aber meine Mom hat sie für sich benutzt und viel darin gelesen, besonders wenn sie etwas Schlimmes erlebte.«
Ich mußte an die Fehlgeburten denken. Jamie fuhr fort:
»Sie hat besonders gern abends darin gelesen, bevor sie schlafen gegangen ist, und sie hatte sie im Krankenhaus dabei, als ich geboren wurde. Als mein Vater erfuhr, daß sie tot war, nahm er mich und die Bibel mit sich nach Hause.«
»Es tut mir leid«, beteuerte ich noch mal. Wenn jemand etwas Trauriges erzählt, fällt einem nichts anderes dazu ein, auch wenn man es schon einmal gesagt hat.
»So kann ich ein bißchen… Teil von ihr sein. Verstehst du das?«
Sie sagte es nicht traurig, sondern nur, um mir meine Frage zu beantworten. Irgendwie wurde es dadurch noch schlimmer.
Nachdem sie mir das erzählt hatte, mußte ich wieder daran denken, daß sie allein mit Hegbert
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