Zeit im Wind
herzukommen…«
Als wir uns verabschiedet hatten, gingen Jamie und ich schweigend davon. Ich merkte, daß sie traurig war. Je mehr Zeit ich mit Jamie verbrachte, desto besser begriff ich, daß sie viele verschiedene Gefühle hatte - sie war nicht immer fröhlich oder glücklich. Ob man es glaubt oder nicht, ich verstand zum ersten Mal, daß sie genauso war wie wir anderen auch.
»Es tut mir leid, daß das nicht geklappt hat«, sagte ich leise.
»Mir auch.«
Sie hatte wieder diesen abwesenden Blick, und es verging ein Moment, bevor sie weitersprach.
»Ich wollte dieses Jahr gern etwas anderes machen. Etwas Besonderes, was sie nie vergessen würden. Ich war mir sicher, daß es das Richtige wäre…«
Sie seufzte. »Ich glaube, daß ich die göttliche Vorsehung darin noch nicht erkenne.«
Lange Zeit war sie still, und ich sah sie an. Jamie unglücklich zu sehen war fast so schlimm, wie ihretwegen unglücklich zu sein. Im Gegensatz zu Jamie hatte ich Grund, meinetwegen unglücklich zu sein - ich wußte, was für ein Mensch ich war. Aber sie…
»Wo wir schon hier sind - hast du Lust, bei den Kindern vorbeizuschauen?« unterbrach ich das Schweigen. Mir fiel nichts anderes ein, was sie vielleicht ein wenig aufheitern würde. »Ich könnte hier draußen warten, während du mit ihnen sprichst, oder ich warte im Auto.«
»Möchtest du nicht mitkommen?« fragte sie plötzlich. Ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher, ob ich mich dazu in der Lage fühlte, aber ich wußte, daß sie mich dabeihaben wollte. Und sie war so niedergeschlagen, daß ich ohne nachzudenken antwortete.
»Klar, ich komme mit.«
»Sie sind jetzt sicher im Aufenthaltsraum. Normalerweise sind sie um diese Zeit da«, sagte sie.
Wir gingen den Flur hinunter bis zum Ende, wo eine Flügeltür in einen großen Raum führte. In einer Ecke des Raumes stand ein Fernsehgerät, um das herum ungefähr dreißig metallene Klappstühle aufgestellt waren. Die Kinder saßen dichtgedrängt davor, aber man sah sofort, daß nur die auf den vorderen Plätzen eine gute Sicht hatten.
Ich sah mich um. An der Wand stand ein alter Tischtennistisch. Die Oberfläche war rissig und verstaubt, ein Netz gab es nicht. Ein paar Plastikbecher standen darauf; offensichtlich war seit Monaten, wenn nicht seit Jahren nicht mehr darauf gespielt worden. Neben dem Tischtennistisch befand sich ein Regal mit ein paar Spielsachen - Bauklötze, Puzzles, ein paar Gesellschaftspiele. Viel war es nicht, und was da war, sah schon ziemlich abgenutzt aus. An den anderen Wänden standen kleine Schreibtische, auf denen mit Buntstiften bekritzelte Zeitungen herumlagen.
Ein paar Augenblicke standen wir an der Tür. Die Kinder hatten uns noch nicht bemerkt. Ich fragte, wozu die Zeitungen seien.
»Es gibt keine Malbücher«, flüsterte Jamie, »deswegen nehmen sie Zeitungen.«
Sie sah mich nicht an, während sie sprach - ihre Aufmerksamkeit war auf die Kinder gerichtet. Jetzt lächelte sie wieder.
»Ist das alles an Spielzeug, was sie haben?« wollte ich wissen.
Sie nickte. »Ja, außer den Kuscheltieren. Die dürfen sie mit in die Schlafzimmer nehmen. Hier werden die anderen Dinge aufbewahrt.«
Sie war vermutlich schon daran gewöhnt. Mir kam der Raum in seiner Kargheit furchtbar deprimierend vor. Ich konnte mir nicht vorstellen, in so einem Haus aufzuwachsen.
Jamie und ich gingen endlich hinein. Beim Klang unserer Schritte drehte sich eins der Kinder um. Es war ein Junge von vielleicht acht Jahren mit roten Haaren und Sommersprossen; seine oberen Schneidezähne fehlten.
»Jamie!« rief er beglückt aus, als er sie sah, und plötzlich drehten sich auch all die anderen Köpfe um. Die Kinder waren ungefähr zwischen fünf und zwölf. Später erfuhr ich, daß sie mit zwölf in Pflegefamilien gegeben wurden.
»Hallo, Roger«, sagte Jamie, »Wie geht es dir?« Daraufhin drängten sich Roger und ein paar der anderen um uns herum. Einige Kinder beachteten uns nicht und rückten auf die besseren Plätze vor dem Fernseher, die jetzt frei geworden waren. Jamie stellte mich einem der älteren Jungen vor, der mich gefragt hatte, ob ich Jamies Freund sei. Seinem Ton nach zu urteilen schien er dieselbe Meinung von Jamie zu haben wie die meisten an unserer High School.
»Er ist einfach ein Freund«, erklärte sie. »Aber er ist sehr nett.«
Wir blieben gut eine Stunde bei den Kindern. Mir wurden viele Fragen gestellt, zum Beispiel, wo ich wohnte, ob ich in einem großen Haus wohnte, was für ein Auto
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