Zeit im Wind
sagt«, meinte sie sanft, »Weil du zu angestrengt lauschst.«
Am nächsten Tag ging es etwas besser mit Jamie und mir, aber nicht viel. Bevor ich zu ihr ging, nahm ich mir vor, nichts zu sagen, was sie traurig machen würde. Ich wollte versuchen, so wie immer mit ihr zu sprechen, und das tat ich dann auch. Ich setzte mich bei ihr aufs Sofa und erzählte ihr von meinen Freunden und was sie machten; ich berichtete ihr von den Erfolgen des Basketball-Teams; ich erzählte ihr, daß ich immer noch nichts von der UNC gehört hatte, aber damit rechnete, bald Nachricht zu bekommen; ich sagte, ich freute mich auf die Abschlußfeier. Ich redete so, als würde sie in einer Woche wieder zur Schule kommen, und dabei klang ich die ganze Zeit angespannt. Jamie lächelte und nickte an den richtigen Stellen, ab und zu stellte sie eine Frage. Aber wir wußten beide, als ich aufgehört hatte zu reden, daß dies das letzte Mal war, daß wir uns so unterhalten hatten. Es kam uns beiden nicht richtig vor.
Mein Herz sagte genau das gleiche.
Ich nahm mir wieder die Bibel vor, in der Hoffnung, daß sie mich leiten würde.
»Wie geht es dir heute?« fragte ich ein paar Tage später. Inzwischen war Jamie noch dünner geworden. Ihre Haut bekam einen etwas gräulichen Schimmer, und die Knochen ihrer Hand traten deutlicher hervor. Ich sah auch neue blaue Flecken. Wir saßen in ihrem Wohnzimmer. Draußen war es zu kalt für sie.
Dennoch sah sie schön aus.
»Es geht ganz gut«, sagte sie mit einem tapferen Lächeln. »Die Ärzte haben mir ein Mittel gegen die Schmerzen gegeben, das scheint ganz gut zu helfen.«
Ich kam jetzt jeden Tag. Einerseits schien die Zeit langsamer zu vergehen, andererseits raste sie.
»Kann ich dir etwas besorgen?«
»Nein, danke, ich habe alles.«
Ich ließ meinen Blick im Zimmer umherschweifen, dann sah ich Jamie an. »Ich habe in der Bibel gelesen«, sagte ich schließlich.
»Wirklich?«
Ihre Augen leuchteten auf, wie damals, als sie der Engel in dem Theaterstück war. Ich konnte kaum glauben, daß seitdem erst sechs Wochen vergangen waren.
»Ich wollte, daß du es weißt.«
»Darüber freue ich mich sehr.«
»Gestern habe ich das Buch Hiob gelesen«, sagte ich , »Wo Gott Hiob richtig in die Mangel nimmt, um seinen Glauben zu prüfen.«
Sie lächelte und streichelte mir über den Arm. Ihre Hand lag zart auf meiner Haut. Es fühlte sich schön an. »Du solltest was anderes lesen. Da zeigt Gott sich ja nicht von seiner besten Seite.«
»Warum hat er Hiob das angetan?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
»Kommst du dir manchmal wie Hiob vor?«
Sie lächelte, ihre Augen funkelten. »Manchmal.«
»Aber du hast dein Gottvertrauen bisher nicht verloren?«
»Nein.«
Ich wußte, daß sie an ihrem festhielt, aber ich glaube, ich war dabei, meins zu verlieren.
»Liegt es daran, daß du glaubst, du könntest wieder gesund werden?«
»Nein«, sagte sie, »es liegt daran, daß mir das als einziges bleibt.«
Von da an lasen wir zusammen in der Bibel. Irgendwie war es richtig und gut, das zu tun, aber mein Herz sagte mir trotzdem, daß da noch etwas war, was ich tun könnte.
Nachts lag ich wach und grübelte darüber nach.
Das gemeinsame Lesen in der Bibel gab uns eine Aufgabe. Plötzlich wurde es besser zwischen uns, vielleicht, weil ich nicht mehr soviel Angst hatte, sie mit einem unbedachten Wort zu kränken. Was könnte schon richtiger sein, als gemeinsam die Bibel zu lesen? Obwohl ich längst nicht soviel wußte wie sie, freute es sie offenbar, daß ich mir Mühe gab. Manchmal, wenn wir lasen, legte sie die Hand auf mein Knie und hörte mir zu, während meine Stimme den Raum erfüllte.
Dann wieder saß ich neben ihr auf dem Sofa, sah auf die Bibel und betrachtete Jamie aus dem Augenwinkel. Wenn wir zu einer schönen Stelle, einem Psalm oder gar einem Sprichwort kamen, fragte ich sie, welche Bedeutung sie darin sähe. Ich hörte mir ihre Antwort an, nickte und dachte darüber nach. Manchmal fragte sie mich nach meiner Meinung. Dann versuchte ich, so gut ich konnte, etwas dazu zu sagen, aber manchmal redete ich auch Unsinn, was sie bestimmt bemerkte. »Ist das wirklich die Bedeutung, die das für dich hat?« fragte sie. Worauf ich mich am Kinn kratzte und noch einmal nachdachte, bevor ich einen weiteren Vorstoß wagte.
Aber manchmal war es auch ihre Schuld, daß ich mich nicht konzentrieren konnte, wo doch ihre Hand dauernd auf meinem Knie lag.
An einem Freitag abend nahm ich sie mit zu mir
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