Zeit im Wind
öffnete. Beim Anblick unserer Gesichter wußte er sofort, daß das Geheimnis gelüftet war. Wir weinten wieder, als wir mit meiner Mutter am Nachmittag darüber sprachen, und meine Mutter drückte Jamie an sich und schluchzte so laut, daß sowohl das Mädchen als auch die Köchin den Arzt rufen wollten, weil sie glaubten, meinem Vater sei etwas zugestoßen. Am Sonntag setzte Hegbert, sein Gesicht von Kummer und Angst gezeichnet, die Gemeinde in Kenntnis und mußte zu seinem Platz geführt werden, bevor er mit der Ankündigung fertig war.
Die Gemeindemitglieder starrten ungläubig vor sich hin angesichts der Worte, die sie soeben gehört hatten, als könnten sie ihren Ohren nicht trauen und warteten nun auf die Auflösung dieser schrecklichen Geschichte. Dann brach das Wehklagen los.
An dem Tag, als Jamie es mir sagte, saßen wir mit Hegbert zusammen. Jamie beantwortete mir geduldig meine Fragen. Sie wußte nicht, wie lange sie noch leben würde, sagte sie. Nein, die Ärzte konnten nichts tun. Es war eine seltene Form der Krankheit, hatten sie gesagt, die man nicht mit den verfügbaren Methoden behandeln konnte. Ja, als nach dem Sommer die Schule begann, hatte sie sich gesund gefühlt. Erst in den letzten Wochen hatte sie etwas gemerkt.
»Es kommt ganz schleichend«, sagte sie. »Du fühlst dich wohl, und wenn dein Körper keine Abwehrkräfte mehr hat, fühlst du dich nicht mehr wohl.«
Ich kämpfte mit den Tränen und mußte an das Theaterstück denken.
»Aber die ganzen Proben… die langen Abende…
vielleicht hättest du das nicht…«
»Vielleicht nicht«, unterbrach sie mich und nahm meine Hand. »Aber wegen des Theaterstücks bin ich so lange gesund geblieben.«
Später sagte sie, daß seit der Diagnose sieben Monate vergangen seien. Die Ärzte hatten ihr ein Jahr gegeben, vielleicht auch weniger.
Heutzutage wäre es anders verlaufen. Heutzutage hätte es Möglichkeiten der Behandlung gegeben. Heutzutage hätte Jamie wahrscheinlich überlebt. Aber wir sprechen von der Zeit vor vierzig Jahren, und ich wußte, was das hieß.
Nur ein Wunder konnte sie retten.
»Warum hast du mir nichts gesagt?«
Das war die eine Frage, die ich ihr noch nicht gestellt hatte, die Frage, die mir immer im Kopf herumgegangen war. Meine Augen waren geschwollen, weil ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Ich hatte alle Phasen von Schock, Verleugnung, Zorn und Trauer wieder und wieder durchlaufen, die ganze Nacht hindurch, hatte gebetet, daß es nicht wahr sein möge, daß es ein gräßlicher Alptraum war.
Wir saßen in ihrem Wohnzimmer. Es war der Tag, an dem Hegbert es der Gemeinde gesagt hatte, der 10. Januar 1959.
Jamie sah nicht so deprimiert aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber natürlich hatte sie schon sieben Monate mit dem Wissen gelebt. Nur sie und Hegbert hatten es gewußt, und sie hatten mir nicht getraut. Das verletzte und ängstigte mich zugleich.
»Ich hatte beschlossen«, erklärte sie mir, »daß es besser wäre, es niemandem zu sagen, und ich habe meinen Vater gebeten, auch nichts zu sagen. Du hast die Menschen heute nach dem Gottesdienst erlebt. Keiner konnte mir in die Augen sehen. Wenn du nur noch ein paar Monate zu leben hättest, würdest du das dann wollen?«
Ich wußte, daß sie recht hatte, aber es machte es nicht leichter. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich völlig verloren.
Von den Menschen, die mir nahe waren, war noch nie einer gestorben, zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Meine Großmutter starb, als ich drei war, aber ich habe keine Erinnerung daran: nicht an sie, nicht an die Trauerfeier und auch nicht an die Zeit unmittelbar nach ihrem Tod. Ich hörte natürlich Geschichten, sowohl von meinem Vater als auch von meinem Großvater, und für mich waren sie nicht mehr als das: Geschichten. Es war so, als würde ich in einem Buch über eine Frau lesen, die ich gar nicht kannte. Zwar nahm mein Vater mich mit, wenn er zum Friedhof ging und Blumen auf ihr Grab legte, aber ich hatte keine Gefühle in dem Zusammenhang. Die hatte ich nur für die Menschen, die sie hinterlassen hatte.
In meiner Familie und in meinem Freundeskreis hatte nie jemand vor einer solchen Situation gestanden. Jamie war siebzehn, ein Kind auf der Schwelle zum Frausein, am Rande des Todes und gleichzeitig sehr lebendig. Ich hatte Angst, so große Angst wie nie zuvor, nicht nur ihretwegen, sondern auch meinetwegen. Ich lebte in der Angst, einen Fehler zu machen, etwas zu tun, das sie
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