Zeit-Odyssee
fünf Minuten noch. Sie müssen sie gesehen haben.«
»Ich fürchte, Sie begreifen die Situation nicht ganz«, sagte der Karg. »Als ich Sie fand, waren Sie ganz allein. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Sie einen längeren Zeitraum hindurch im achronischen Nichts getrieben haben.«
»Wie lange?«
»Oh, das ist ein überaus interessantes Problem auf dem Gebiet der temporalen Relativistik. Wir haben die biologische Zeit, das heißt, die ganz persönliche Zeit des einzelnen, die an Herzschlägen gemessen wird, und dann die psychologische Zeit, ein rein subjektives Phänomen, bei dem Sekunden wie Jahre sein können und umgekehrt. Doch zu Ihrer Frage: Die Finale Autorität hat ein Kalibrierungssystem zum Taxieren der absoluten Dauer entwickelt, und nach den Messungen dieses Systems belief sich Ihr Aufenthalt außerhalb des entropischen Stroms auf eine Dauer von über einem Jahrhundert mit einer Meßabweichung von plus oder minus zehn Prozent, würde ich sagen.«
Der Karg breitete die weichen Hände aus und lächelte ein philosophisches Lächeln.
»Was allerdings Ihre, äh, Frauen betrifft, da weiß ich gar nichts.«
Ich holte zu einem Schwinger aus; der Schlag ging daneben, aber er half mir, heimlich die Kraterpistole in meine Hand rutschen zu lassen. Der Karg fuhr zurück, Dr. Fresca stieß einen Schrei aus, und Koska packte meinen Arm. Der Karg warf etwas nach mir, das mit einem nassen Klatschen meine Seite traf, sich ausbreitete, um meine Arme legte und weiter wuchs, bis ich auf einmal bis zu den Knien in eine Art Spinnengewebe gewickelt war, so weiß wie Zuckerwatte und mit einem Geruch nach volatilem Polyester.
Ich versuchte einen Schritt zu machen und wäre beinahe gefallen, wenn Koska mich nicht gehalten hätte. Fürsorglich, als hätte ich einen Ohnmachtsanfall, führte er mich zu einem Stuhl.
»Sie sind ein Lügner, Karg«, fauchte ich, »und zwar ein schlechter. Um wirklich aufrichtig zu klingen, muß man ein Mensch sein. Sie haben mich keineswegs durch Zufall aus dieser Ewigkeit von mehreren Milliarden Quadratjahrtausenden herausgefischt. Sie haben Ihre Narben gut kaschiert, aber Sie kennen mich. Und wenn Sie mich kennen, kennen Sie auch sie.«
Der Karg machte ein nachdenkliches Gesicht; auf seinen Wink hin verließen Koska und die Frau den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Dann sah er mich mit einem völlig veränderten Ausdruck auf seinem Plastalloy-Gesicht an.
»Nun gut, Mr. Ravel, ich kenne Sie. Zwar nicht persönlich – Ihre Andeutung betreffs der Narben bezieht sich vermutlich auf eine Begegnung, die in den Status der unrealisierten Möglichkeiten verwiesen wurde –, aber ich kenne Sie vom Hörensagen, beruflich. Die Frau – nun ja, ich könnte mich unter Umständen später um Ihre Bergung kümmern, wenn wir zu einer Verständigung gekommen sind.« Er war jetzt wieder ganz und gar Karg, nüchtern und ohne jegliches Gefühl.
»Ich verstehe Ihre Absicht schon jetzt, Karg«, erwiderte ich.
»Lassen Sie mich von unserer Arbeit erzählen, Mr. Ravel«, sagte er sanft. »Ich glaube, wenn Sie sie wirklich verstehen, werden sie bereitwillig zu unseren Bemühungen beitragen.«
»Ich würde mich nicht darauf verlassen, Karg«, warf ich ein.
»Ihre Feindseligkeit ist fehl am Platze«, meinte der Karg. »Wir hier vom Dinosaurier-Strand brauchen Ihre Fähigkeiten und Ihre Erfahrung, Mr. Ravel …«
»Kann ich mir denken. Wer sind Ihre Freunde? Überläufer aus der Dritten Ära? Oder rekrutieren Sie jetzt schon aus der Zweiten?«
Der Karg ignorierte meine Bemerkung. »Dank meiner Hilfe«, fuhr er fort, »haben Sie jetzt Gelegenheit, das Werk fortzusetzen, dem Sie Ihr Leben geweiht haben. Sie müssen einsehen, daß eine Zusammenarbeit mit mir in Ihrem Interesse liegt!«
»Ich möchte bezweifeln, daß meine und Ihre Interessen jemals die gleichen sein werden, Karg.«
»Die Verhältnisse haben sich geändert, Mr. Ravel. Wir müssen umlernen, müssen uns den gegebenen Realitäten anpassen.«
»Ihre große Nexx-Zeitsäuberungsaktion ist natürlich fehlgeschlagen, wie Sie inzwischen bestimmt erraten haben. Es war ein nobles Programm, aber fehlgeleitet, wie andere vor ihm. Der wahre Schlüssel zu temporaler Stabilität liegt nicht in dem simplen Bestreben, die Vergangenheit in ihren Urzustand zurückzuversetzen, sondern in der klugen Anwendung der Gegebenheiten und Möglichkeiten des für uns erreichbaren Abschnitts des entropischen Spektrums, um eine entwicklungsfähige Enklave von adäquaten
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