Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
ergänzte er: »Diksmuide, nördlich von Langemarck, mehr die Yser abwärts, aufs Meer zu.« Karl begann, den Brief leise vorzulesen. Nur der erste Teil stammte von Bastian selbst:
»Liebe Mama!
Ich weiß nicht, ob ich noch lebe, wenn du meinen Brief erhältst. Die letzten Oktobertage waren schrecklich. Genauso stelle ich mir die Hölle vor. Im Viehwagen erst und dann nach gewaltigen Märschen kamen wir in Flandern an. Im Sturm wollten wir bis nach Dünkirchen vorstoßen und die Engländer ins Meer treiben. Aber es kam alles ganz anders. Erst waren wir wie von einer großen Spannung befreit, als wir hörten, der Feind liege dicht vor uns. Du wirst es nur schwer glauben, liebe Mama, aber als ich dann zum ersten Male schießen durfte, war es, als ob die Schüsse eine eiserne Fessel sprengten, die mir um die Brust gelegt war. Als der Trompeter das Signal ›Rückt vor!‹ blies, stürmte unser Bataillon, tausend Soldaten, Mann an Mann auf den Ort Bikschote zu. Im Sturmschritt ging es quer über einen endlosen Rübenacker. Der Lehmboden klebte an unseren Stiefeln, aber nicht die schlammige Erde stoppte unseren Sturmlauf. Wir waren schon ziemlich nah vor den ersten Häusern des Ortes, keine Deckung weit und breit. Die gelblich grünen Rübenblätter klatschten uns um die Stiefel. Da ging es auf einmal los, Maschinengewehre feuerten wie wild, tausend Gewehrschüsse, leichte Artillerie. Zischen, Donnern, explodierende Feuerbälle, und wir liefen oder fielen, wer weiß, nach welchem blinden Zufall, und wir liefen und wir fielen in den Tod. Der Kurt Bernstein neben mir wurde zu Boden gerissen, und links und rechts ein Schreien, Stolpern, Taumeln, Fallen. Der Trompeter blies schon längst nicht mehr, als ich mit wenigen Kameraden keuchend in einer flachen, schlammigen Erdmulde Schutz suchte.
›Grabt euch ein, Jungs!‹, hat ein älterer Unteroffizier gesagt. Er war aus der 3. Kompanie und ich kannte ihn vom Sehen. Er selbst konnte den Spaten nicht mehr halten, er hatte einen Oberarmdurchschuss. Ich will es kurz machen, Mama. In der Nacht haben wir uns zurückgeschlichen. Es lag, Gott sei Dank, ein dünner Nebel über dem Acker. Erwin und ich haben den Unteroffizier mitgeschleppt. Er hatte so viel Blut verloren, dass er ganz matt war.
In den folgenden Tagen sind wir noch zweimal gegen Bikschote angerannt, haben es genommen und wurden wieder zurückgetrieben. Nun haben wir zwei Tage Ruhe, ein wenig hinter den Linien. Endlich konnten wir uns satt essen. Es gab Reissuppe mit Hühnerfleisch, Suppe, so viel wir wollten. Aus unserem Regiment sind zwei von drei Mann gefallen, verwundet, vermisst. Aber heute ist es bis zur ursprünglichen Zahl wieder aufgefüllt worden, fast nur Schüler, Studenten, junge Leute. Lauter Freiwillige. Sie fragen uns, wie es da vorn ist. Sie sind so voller Zuversicht, voller Leben. Ich komme mir uralt vor, wenn ich sie sehe und sie so begeistert von Sieg und Vaterland reden höre.
Mama, ich weiß, ich mache dir das Herz schwer, wenn ich das schreibe, aber es wird mir ein bisschen leichter, wenn ich nicht alles in mich hineinfressen muss. Wer weiß, vielleicht zerreiße ich diesen Brief. Der Sieg, sagt unser Feldwebel, frisst alle Angst auf. In der Morgendämmerung, so munkelt man, werden wir westlich von Langemarck wieder nach vorn geworfen. Wahnsinn, das wird auf unseren Kreuzen stehen.«
3
Karl hatte mit monotoner Stimme vorgelesen. Er schwieg und schluckte.
»Weiter«, bat Bruno. Es klang ein wenig heiser.
»Hier endet der Brief«, sagte Karl.
»Kein Gruß, kein Name?«, fragte der Junge.
»Sein Leutnant hat ein paar Zeilen daruntergeschrieben«, antwortete Karl und fuhr leise fort:
»Sehr geehrte Frau Grobelski!
Ihr Sohn ist für Kaiser und Vaterland in Flandern gefallen. Tapfer ist er vorangestürmt. Laut haben unsere Jungen gesungen ›Deutschland, Deutschland über alles‹. Viele junge Helden haben das Los Ihres Sohnes geteilt. Süß ist es und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben.
Eigentlich dürfte ich Ihnen den Brief Ihres Sohnes gar nicht zusenden. Aber darf ich die letzten Gedanken eines jungen Freiwilligen unterschlagen?
Voller Hochachtung
Ihr Peter von Holzen
1. Leutnant
P.S. Sie finden das Soldbuch, die Taschenuhr sowie die Brieftasche Ihres Sohnes in dem Päckchen.
Geschrieben vor Langemarck, Ende November 1914.«
Karl faltete den Brief zusammen. Sie saßen um den Tisch und schwiegen lange. Schließlich rückte Frau Podolski ihren Stuhl zurück und stellte Tassen auf den
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