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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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Tisch. Bruno trug die große Emaillekanne mit Kaffee herbei. Die Kanne stand fast den ganzen Tag über hinten auf der Herdplatte. Bruno goss die Tassen randvoll.
    »Sind sie denn wirklich mit einem Lied, mit dem ›Deutschland, Deutschland über alles‹ in das Feuer gerannt?«, stieß Frau Podolski hervor.
    »Es kam damals häufiger vor, dass wir sangen, wenn wir vorwärts-stürmten.«
    »Aber der schlammige Ackerboden, das schwere Gepäck auf dem Rücken und am Gürtel, das schnelle Laufen, wie kann da ein Mensch singen?«
    »Es war die Angst, Frau Podolski. Die Angst war es. Wir haben versucht, die Angst totzuschreien.«
    Sie schlürften den heißen Kaffee. Frau Podolski band die Briefe wieder zusammen. Bevor sie das Päckchen in die Schuhschachtel zurücklegte, nahm sie eine Taschenuhr heraus, zog sie auf, hielt sie ans Ohr und sagte: »Sie geht noch immer. Unser Bastian hat sie von seinem Paten bekommen, als er als Klassenbester die mittlere Reife machte.«
    Dann aber packte sie die Schachtel ein und trug sie in den Küchenschrank. Karl erzählte später noch von Willi Rath, der auch aus dem Schwäbischen stammte. Er hatte als Schlossermeister Arbeit im Ruhrgebiet gefunden. Paul erinnerte sich, dass sie den Feldwebel Rath einmal hinter der Front getroffen hatten. Eine lange Nacht hindurch feierten sie das Wiedersehen damals. Es wurde geredet und getrunken und abenteuerliche Pläne für eine Zukunft nach dem Sieg waren geschmiedet worden.
    »Der Willi«, sagte Karl, »der ist schon vor dem Krieg Leiter einer ganzen Abteilung in einer Schiffswerft am Rhein gewesen. Der wird mir sicher Arbeit beschaffen können.«
    »Ich sollte vielleicht mit ins Ruhrgebiet ziehen«, sagte Paul.
    »Der junge Warczak wohnt auch in Gelsenkirchen«, sagte Bruno.
    »Berlin oder Ruhrgebiet, das sind beides Hexenkessel in dieser wilden Zeit«, warnte Frau Podolski. »Wenn ihr schon fortwollt, macht es doch wie die Nationalversammlung. Versucht es in Weimar oder in einer anderen ruhigen Stadt. Wo viele Menschen zusammengepfercht sind wie hier oder an Rhein und Ruhr, da liegen Lunten am Pulverfass.«
    »Aber Arbeit gibt es dort eher«, verteidigte Karl seinen Plan. »Und wir wollen endlich etwas aufbauen.«
    »Und Sie, Paul? Warum versuchen Sie nicht, in Ihrer Heimat wieder Fuß zu fassen? Ihr Vater, Ihr Bruder, die haben dort doch Land, eine Zimmerei und auch ein Fuhrgeschäft.«
    »Sie haben den Bruno ja geschickt ausgehorcht«, lachte Paul. »Aber die ganze Geschichte hat Ihnen der Junge nicht erzählt. Bei uns ist der älteste Sohn alles, der jüngere ein Nichts. Er kann, wenn er sich damit abfindet, Knecht seines Bruders sein. Das Geschäft wird ›Lukas Bienmann und Sohn‹ heißen und der Sohn, das ist immer der, der zufällig zuerst geboren ist.«
    Paul sprach mit einer gewissen Verbitterung. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Immerhin hat mein Vater alle seine Söhne ein Handwerk lernen lassen. Handwerk hat goldenen Boden.«
    »Ihr Vater ist ein kluger Mann«, lobte Frau Podolski. Sie öffnete die Schranktür, seufzte und sagte: »Ich hätte Sie, Herrn Schneider, gern zum Abendessen eingeladen, aber diese Siegermächte heben die Blockade nicht auf. Keine Nahrungsmittel nach Deutschland. Aushungern wollen sie uns. Das soll ein Mensch begreifen.«
    »Ist schon gut, Frau Podolski«, antwortete Karl.
    Paul und Karl verabredeten sich für den kommenden Sonntag bei Karl in Moabit. »Wir dürfen uns nicht wieder aus den Augen verlieren«, sagte Karl zum Abschied. »Ohne die alten Freunde ist es heutzutage schwer, sich durchzuschlagen.«
    Als Frau Podolski ein paar Bratkartoffeln und eine wässrige Suppe auf den Tisch stellte, sagte sie: »Diesen Schneider, Paul, den sollten Sie festhalten. Ich habe einen Blick für Menschen.«

4
    Frau Podolski hatte darauf gedrungen, dass Bruno wieder zur Schule ging. Schließlich schloss er sich den Jungen aus der Nachbarschaft an. Er kam zu Lehrer von Wichtel. Niemand wird behaupten wollen, von Wichtel habe keinen Humor. Wer eins dreiundneunzig groß ist, von Wichtel heißt und trotzdem Lehrer in Berlin-Lichtenberg wird, der kann ohne diese liebenswerteste aller menschlichen Eigenschaften nicht überleben.
    Von Wichtel war der Meinung, in Zeiten, in denen vieles drunter und drüber gehe, sei es vor allem wichtig, den Schülern in der Schule beizubringen, was Ordnung heißt.
    »Der Mensch muss einen festen Rahmen haben, wenn nicht alles aus den Fugen gehen soll.« Diese Worte konnte kein Schüler

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