Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
bemerkten sie nicht, dass sich Bruno an den Nachbartisch gesetzt hatte und begierig den Worten lauschte, die von Paul und Karl herüberdrangen. Schnell hatte er heraus, wer der hagere Mann sein konnte, der da bei Paul saß. Sein schwäbischer Dialekt, die scharfen Gesichtszüge, der auf und nieder springende Adamsapfel, Paul hatte oft genug seinen Freund Karl beschrieben. Zuerst empfand Bruno so etwas wie Zurücksetzung, aber dann hatte Karl ihn doch in seinen Bann gezogen und das beklemmende Gefühl, der Fremde könne ihm etwas wegnehmen, wich allmählich. Endlich entdeckte Paul den Jungen.
»Bruno, Salzknabe, was willst du denn hier?«, fragte er aufgeräumt.
Bruno antwortete: »Frau Podolski hat mich vor einer Stunde losgeschickt. Ich soll dich zum Mittagessen holen. Aber ich wollte euch nicht stören.«
»Heute ist mir ganz gleichgültig, was die Podolski sagt, mein Junge.«
Paul zog seine Uhr aus der Westentasche. »Aber es ist schon fast zwei Uhr.« Er überlegte einen Augenblick, zeigte auf die leer getrunkenen Biergläser und sagte: »Karl, ich bin pleite. Kein weiteres Bier also. Ich schlage vor, geh mit auf meine Bude oder, wenn es da zu kalt ist, in Podolskis Küche. Die Frau ist gar nicht so giftig, wie sie sich gibt.«
»Gut«, stimmte Karl zu. »Wir können dann in Ruhe besprechen, wie es mit uns weitergehen soll.«
Frau Podolski hatte bereits das Geschirr gespült und die eiserne Platte des Kochherdes blank geputzt. Sie saß am Küchentisch und kramte in Papieren, die in einem Schuhkarton lagen. Als sie die Männer im Flur hörte, rief sie: »Sind Sie es, Paul?«
»Meist redet sie den Paul mit ›du‹ an«, sagte Bruno. »Aber sie hat sicher gehört, dass wir jemand mitbringen. Dann tut sie immer ganz vornehm.«
Paul betrat die Küche. Karl und der Junge blieben im Türrahmen stehen.
»Es zieht. Schließ die Tür, Junge. Und nimm die Matrosenmütze vom Kopf.«
Karl schien das als Einladung zu verstehen. Frau Podolski sagte: »Ich habe nichts gegen Besuch, aber noch einen Kostgänger, Paul, schieben Sie mir bitte nicht unter.«
»Das ist Karl Schneider, Frau Podolski. Wir waren im Krieg lange zusammen.«
Diese Vorstellung verstärkte Frau Podolskis Misstrauen. Karl aber sagte: »Keine Sorge, Frau Podolski. Ich wohne drüben in Moabit in der Wohnung von einem Landsmann, der vor ein paar Wochen ins Ruhrgebiet gezogen ist. Der Paul und ich wollen nur miteinander reden.«
»Mittagessen gibt es um diese Zeit sowieso nicht mehr«, knurrte Frau Podolski und schaute missbilligend auf die Wanduhr.
Eigentlich wollten Paul und Karl von der Zukunft sprechen, aber dann fielen Worte wie Marne und Somme und Verdun und Flandern. Die Erinnerungen stürzten über sie her. Sie fragten nach Namen von Soldaten und Offizieren und was wohl aus ihnen geworden war.
Als die Rede auf Flandern kam, da zog Frau Podolski, die bis dahin schweigsam am Tisch gesessen hatte, ein Foto aus dem Schuhkarton und reichte es den Männern hinüber. Es zeigte einen jungen Mann mit einem Kindergesicht und gewellten blonden Haaren. Er trug die feldgraue Infanterieuniform und stand da in voller Ausrüstung, den Tornister auf dem Rücken, die ledernen Patronentaschen am Koppel, den Brotbeutel, das Blechkochgeschirr, die Feldflasche, den kleinen Spaten und den Karabiner neben den Schuh gestellt.
»Ein Mausergewehr 98«, sagte Bruno und deutete auf das Foto.
»Schlimm genug, dass die Kinder so etwas heute genau wissen.« Frau Podolski schüttelte den Kopf.
Die Männer sahen sich das Foto an. Frau Podolski erklärte: »Das hat mein Bruder Bastian machen lassen, bevor er nach sage und schreibe acht Wochen Ausbildung gleich von der Kaserne ins Feuer geschickt worden ist. Im Herbst 1914 ist er vor Langemarck in Flandern gefallen. Schüler war er noch. Meine Eltern haben sich jahrelang krummgelegt, damit er auf das Gymnasium gehen konnte. Er sollte mal studieren. Aber er war nicht zu halten, als der Krieg ausbrach. Freiwillig hat er sich gemeldet und er war glücklich, als sie ihn nahmen.«
Sie knüpfte ein schmales Briefbündel auf und legte das blassblaue Seidenband sorgfältig zusammen. Den obersten Brief nahm sie herunter, zog ihn aus dem Umschlag und las. Das Papier zitterte ein wenig in ihren Händen. Sie seufzte und schob Karl den Brief zu. »Waren Sie auch in Flandern?«
»Ja«, antwortete Karl. »Ich habe den ganzen Schlamassel bei Diksmuide von Anfang an mitgemacht.«
Als er merkte, dass sie damit nichts anzufangen wusste,
Weitere Kostenlose Bücher