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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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Schüler, wenn er wie ein nasser Lappen am Reck hing oder sich mit zusammengebissenen Zähnen vergeblich bemühte, an einem der dicken Seile emporzuklettern, die von der Turnhallendecke herabhingen.
    Da ging es selbst Karl Paschke noch besser, der zwar auch im Turnen eine Null war, der sich aber Respekt in der Klasse verschaffte, indem er die Prügel von Herrn von Wichtel in stoischer Ruhe ertrug.
    Über diesen Karl Paschke ärgerte sich Lehrer von Wichtel, wenn er wieder einmal seine Hausaufgaben vergessen hatte. Karl verzog bei den dann fälligen Schlägen keine Miene. Das machte Herrn von Wichtel zornig. Er sagte: »Wir schreiben ein Übungsdiktat.« Einige kurze Sätze über das Rind als Wiederkäuer hatten es in sich. Labmagen, Schluckakt, Pansen, Mahlzähne waren die Rechtschreibklippen. Die Fehlerzahl musste unter das Diktat geschrieben werden. Keine Prügel? Nein. Von Wichtel verlangte vielmehr, dass die Eltern diese schlechte Leistung durch eigenhändige Unterschrift zur Kenntnis zu nehmen hätten. Er verlagerte damit die Prügel ins Elternhaus.
    Sehr aufmerksam betrachtete er am nächsten Morgen die Unterschriften. Drei hatten sie »vergessen«. Er erweiterte den Bußkatalog und verpasste diesen vergesslichen Schülern je drei Schläge auf die Finger. Karl Paschke gab freimütig zu, selbst tätig geworden zu sein. Sein Vater sei als Streikposten eingeteilt und seit drei Tagen nicht nach Hause gekommen. Seine Mutter habe sich geweigert, zum Stift zu greifen. Fünf Schläge waren die Quittung und dazu die Mahnung, dass alle Verbrecher mit kleineren Sünden begonnen hätten, und Urkundenfälschung, das sei nun schon keine Kleinigkeit mehr.
    In Bruno kroch die Angst vom Magen hoch. »Bruno Kurpek« stand in sauberer Schrift unter dem Diktat. In seiner Schrift.
    »Sind deine Eltern sehr schlimm?«, fragte der Lehrer so leise, dass nur Bruno ihn verstehen konnte. Bruno war von dieser Frage überrascht und verwirrt. Er begann zu heulen.
    »Wir reden später darüber«, sagte Herr von Wichtel. Er mahnte die Schüler, schön und richtig zu schreiben. Oft sei das lebenswichtig. Im Krieg habe er das häufig erfahren. »Man stelle sich nur einmal vor, die Melder hätten die Botschaften vom Stab unleserlich oder gar fehlerhaft in die vorderen Linien getragen. Lebensgefährlich wäre das ja gewesen, lebensgefährlich!« Wenn das Stichwort »vordere Linien« fiel, wussten die Schüler, was kam. Lehrer von Wichtel erzählte dann vom Krieg. Besonders eine Geschichte hatte es ihm angetan. An die zwanzigmal hatten die Schüler im siebten Schuljahr sie schon gehört. Sie begann: »Es war 1916 an der Somme. Die Engländer schossen sieben Tage lang Trommelfeuer.« Und dann beschrieb er genau die verschiedenen Kaliber, bis hin zu den schwersten Haubitzen, die Geschosse von eintausendvierhundert Pfund herüberjagten. Die 15-Zoll-Haubitzen habe man bereits am Fluggeräusch erkennen können und sie hätten Granattrichter hinterlassen, die oft zwei und mehr Meter tief gewesen seien. In aller Ausführlichkeit schilderte er die Angriffe, die dem Trommelfeuer folgten, die Grabenkämpfe. »Und dann, Jungens, ging es oft Mann gegen Mann. Ich hatte mich gerade über die Brustwehr unseres Grabens geschwungen und wollte in den Graben der Engländer stürmen, da rutschte ich mir nichts, dir nichts in einen ziemlich tiefen Granattrichter hinein. Und was meint ihr, was da geschah?«
    Karl Paschke wusste zwar auch, dass diese Kunstpause von gespanntem Schülerschweigen gefüllt sein sollte, aber er wollte sich für die zu Beginn des Unterrichts empfangenen Prügel rächen und rief ziemlich laut: »Ich will mal raten, Herr Lehrer!«
    Herr von Wichtel blickte scharf zu ihm hinüber, aber Karl Paschke störte das nicht. »Ich denke mir, da war schon einer drin, in dem Trichter. ’n Tommy war’s. Genau! Und was machte der? Er zog ne Zigarettenschachtel aus der Brusttasche und bot Ihnen eine an. Er selbst steckte sich auch eine zwischen die Lippen. Und Sie … na, Sie haben ihm Feuer gegeben. Sie haben dann ganz still die Zigaretten zu Ende geraucht. Er hat ›Good bye, old boy‹ gesagt und Sie ›Leb wohl, Kamerad!‹ Und dann sind Sie wieder rausgeklettert aus dem Trichter.«
    Karl Paschke schaute den Lehrer an und als der immer noch verdutzt schwieg, da fragte er noch: »So war’s doch, Herr Lehrer, oder?«
    Die Klasse wagte nicht, sich zu rühren. Das, was Karl da gemacht hatte, war in keinem Strafkatalog unterzubringen. Von Wichtel aber

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