Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
vergessen, der in seiner Klasse gewesen war. Den meisten hatte er diese Lehre mit dem Rohrstock eingebrannt, wobei die Handflächen, der Rücken und das Hinterteil gleicherweise berücksichtigt wurden. Von Wichtel schlug ganz selten im Zorn, aber seine Liste für den kalten Strafvollzug war ziemlich ausgefuchst. Keine Hausarbeiten: fünf Schläge; kein sauberes Taschentuch: drei Schläge; schmutzige Fingernägel: zwei Schläge; Fehler beim Abschreiben: je einen Schlag und so fort. Besonders hart verfuhr er mit Schülern, die sich in Schlägereien untereinander verwickelten.
»Man muss den Teufel mit Beelzebub austreiben«, sagte er dann. Deshalb hieß sein Rohrstock bei den Schülern auch Beelzebub.
Bruno war noch niemals von Lehrer Wichtel geschlagen worden. Er hatte ein sauberes Taschentuch, das er nie benutzte und trotzdem jede Woche wechselte. Frau Podolski hatte ihm aus dem Nachlass ihres Mannes einen Leinenfetzen überlassen, ehemals ein Fußlappen. Aus dem hatte Bruno zwei leidlich rechteckige Taschentücher geschnitten. Das Tuch, das er eine Woche lang allmorgendlich vorgezeigt hatte, wusch er unter dem Kran im Flur samstags sorgfältig aus, schrubbte mit einer Wurzelbürste daran herum, hängte es auf die Eisenstange, die rund um Frau Podolskis Herd lief, und fuhr mit dem heißen Bügeleisen darüber. Im Übrigen schnäuzte er sich, wie er es bei den meisten Männern in Liebenberg gesehen hatte. Und die trugen ihr Taschentuch nur im Sonntagsanzug zur Zierde mit sich. Seine Nägel waren sehr kurz geschnitten und in der Regel sauber.
Die Hausaufgaben waren ein größeres Problem. Was von Wichtel an Leistungen verlangte, das war für Bruno leicht zu schaffen. Aber wie sollte er an eine Schiefertafel, an einen Griffel kommen? Paul hatte ihm ein Stück Dachschiefer von Borsig mitgebracht, aber die Oberfläche war nicht ganz glatt und das Schreiben darauf ziemlich schwierig. Immerhin akzeptierte von Wichtel seine Bemühungen. Herzklopfen bis zum Hals hinauf hatte Bruno, als er dem Lehrer eines Tages eine in schöner Handschrift gefertigte Hausarbeit auf den unbedruckten Rändern einer Zeitung vorzeigte. Aber von Wichtel hatte seine Findigkeit gelobt, statt ihm die erwarteten Prügel zu verpassen. Nach dem Unterricht hatte er »den Kurpek« in der Klasse gehalten.
Bruno stand vor seinem Pult, ein kleines Zittern in den Knien. Von Wichtel schaute lange vor sich hin. Bruno dachte schon, er habe ihn vergessen, aber dann zog der Lehrer eine Schublade auf und schob dem Jungen ein Schreibheft über die Pultplatte, nahm eine Stahlfeder und einen alten Federhalter, ein Tintenfass voller Tinte, gut verkorkt, und sagte kein Wort dabei.
»Soll ich das für Sie irgendwohin tragen?«
Von Wichtel schüttelte den Kopf, schaute ihn an und sagte: »Nimm es für dich, Junge.« Dann räusperte er sich und fuhr barsch fort: »Aber mache mir keinen Tintenklecks in das Heft, Kurpek. Die Feder ist neu. Stecke sie erst ein paarmal in eine rohe Kartoffel, sonst perlt die Tinte ab.«
»Ja, Herr Lehrer«, sagte Bruno und wunderte sich, dass ein Lehrer so anders sein konnte, wenn er nicht vor der ganzen Klasse stand.
Bruno hatte eine klare Handschrift. »Wie gestochen«, lobte Lehrer von Wichtel. Wenn der Junge sich Mühe gab, dann glichen die Buchstaben, die er schrieb, aufs Haar jenen, die auf zwei großen Papptafeln gedruckt an der Wand der Klasse aufgehängt waren. Oberlehrer Kolukken in der Dorfschule in Liebenberg hatte seinerzeit scharf darauf geachtet, dass das Schönschreiben bei seinen Schülern nicht zu kurz kam. Er hatte sich, nachdem er schon vier Jahre lang pensioniert war, zu Beginn des Krieges bereit erklärt, wieder Dienst zu tun, weil der jüngere Lehrer die Kreide mit dem Karabiner vertauschen musste. Kolukken war es zu verdanken, dass die Liebenberger wegen ihrer Schreibkunst bis über die Kreisstadt Ortelsburg hinaus bekannt waren. Bruno jedenfalls kam das in der Berliner Freien Schule zu Gute. Sein kostbares Heft begann ein Musterheft zu werden.
Bei den 63 Jungen in der Klasse war Bruno nicht anerkannt. Wenn in der Turnhalle Mannschaften für ein Wettspiel gewählt wurden, stand Bruno oft und oft unter den Letzten, die eigentlich niemand wollte. Saubere Handschrift zählte nicht, Kraft und Geschicklichkeit waren gefordert. Aber Bruno war zu schlapp, um den schweren Medizinball weit zu schleudern. Auch beim Einzelturnen an den Geräten war es nicht viel besser. Ein Handstand gelang ihm nie. Laut lachten die
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