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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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Horizont.
    *
    »Wieder so ein Kaff«, stöhnte Infanterist Huber. »Ich dachte, jetzt geht es endlich nach Paris!« Seit zwei Tagen war das bayerische Infanterieregiment unterwegs gewesen, jetzt schwenkte das Gros nach Süden ab, eine kleine Abteilung wurde abkommandiert, um die Kleinstadt Hirson zu kontrollieren, die sich im Morgengrauen am Horizont abzeichnete. Huber gehörte dazu. »Die werden uns nicht lange aufhalten«, sagte sein Nebenmann, »die Stadt ist völlig ungeschützt, wir werden sie nur auf Partisanen durchkämmen. Und dann geht es wieder zu den anderen.«
    »Na hoffentlich!«, sagte Huber. »Aber vorher ein bisschen ausruhen, mir qualmen die Socken.« Zwei Tage war die Vorhut der ersten deutschen Armee unterwegs gewesen, hatte die Grenze von Belgien nach Frankreich überschritten und ein nahezu menschenleeres Land vorgefunden.
    Mit dem Ausruhen wurde es nichts: Zwei Stunden marschierte die Abteilung, dann erreichte sie die erste der schmalen Zufahrtstraßen, die nach Hirson hineinführten, eine weitere halbe Stunde dauerte es, bis alle Ortsausgänge besetzt waren und der Trompeter den Befehl zum Einmarsch gab. Die Sonne stieg höher, keiner der Bewohner zeigte sich. Langsam, nach allen Seiten sichernd, gingen die Soldaten Seite an Seite in die Stadt hinein, die Gewehre im Anschlag. »Wo stecken die denn alle?«, flüsterte Huber, »die können doch nicht alle in der Kirche sein, heute ist schließlich nicht Sonntag.«
    Wie aufs Stichwort begannen die Kirchenglocken zu läuten, gleichzeitig wurde das Feuer von den Dächern der umliegenden Häuser eröffnet. Noch bevor die Soldaten ihre Gewehre in die Höhe reißen konnten, stürzten die ersten von ihnen getroffen auf das Straßenpflaster. Huber rettete sich mit einem Sprung in einen Hauseingang. Von hier musste er mit ansehen, wie seine Kameraden einer nach dem anderen zu Boden sanken.
    Ebenso plötzlich, wie das Knattern der Gewehre begonnen hatte, legte sich Stille über die Straße. Huber lief der Schweiß unter der Pickelhaube hervor und über das Gesicht. Als er sich mit dem Ärmel über die Augen wischen wollte, bemerkte er im gegenüberliegenden Haus Bewegung: Bewaffnete Männer kamen vorsichtig aus den Haustüren, blickten auf die Toten, die auf der Straße lagen, gaben Handzeichen zu den anderen Häusern, aus denen immer mehr Bewaffnete traten. Langsam begannen sie, die Straße in die Richtung zurückzugehen, aus der die Deutschen gekommen waren. Der Schweiß brannte in Hubers Augenwinkeln, er konnte nicht länger an sich halten, hob den Arm und wischte mit den Ärmeln über seine Stirn. Einer der Männer, der ihm am nächsten stand, bemerkte ihn, wirbelte herum und richtete sein Gewehr auf ihn. Huber hob die Arme.
    Die Männer starrten ihn an, dann sprachen sie leise miteinander, einer trat vor und nahm das Gewehr in Anschlag. Huber fiel auf die Knie und faltete die Hände zum Gebet. Endlose Sekunden vergingen, aber es fiel kein Schuss. Huber wagte einen Blick und sah, dass ein weiterer Mann die Hand auf die Schulter des Schützen gelegt hatte und leise auf ihn einredete. Huber stockte der Atem – er kannte das Gesicht, konnte sich jedoch nicht daran erinnern, wo er es zuletzt gesehen hatte. Aber er war sich sicher, dass es nicht lange her war.
    Wieder schloss er die Augen und murmelte ein Gebet, bis er am Arm gepackt wurde, jemand die Tür des Hauses aufstieß und ihn hineinschob. Wortlos schob der Mann Huber weiter in eine Wohnung. Ihre Blicke trafen sich. Und jetzt wusste Huber, wer es war. Es war der Husar vom Marktplatz in Dinant. »Verräter!«, zischte er, bevor Wilhelm die Tür schloss.
    Wilhelm war erleichtert. Er war entschlossen gewesen, eine Erschießung Hubers notfalls mit Gewalt zu verhindern. Sein Argument, dass es sinnvoller sei, den Mann am Leben zu lassen und von ihm zu erfahren, wohin die übrigen Deutschen marschiert waren, wirkte. Als er jetzt aus dem Haus trat, hörte er das Krachen der Gewehre in den umliegenden Straßen, Männer liefen zum Marktplatz hinauf. Niemand bemerkte, wie Wilhelm sich in die entgegengesetzte Richtung entfernte.
    Am Ende der Straße blieb er stehen und sah sich um. Aus der Stadt hörte er deutlich die Schüsse und Schreie der Kämpfenden, vor sich sah er die Landstraße, die in die Felder hinausführte. Während er noch überlegte, hörte er neben sich ein leises Schnauben. Ein herrenloses Pferd stand am Wegesrand und rupfte Gras aus einem Graben. Mit zwei Sätzen war Wilhelm bei ihm und

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