Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Jüngere der beiden, der kaum älter als Wilhelm war, Zigaretten an. »Wir werden bald auf Kameraden stoßen«, sagte er. »Da oben sind schon die ersten.«
Er deutete zum Himmel, wo Doppeldecker langsam ihre Kreise zogen. Wilhelm erinnerten sie an Raubvögel. »Aufklärer«, sagte der Ältere und wandte sich an seinen Kameraden. »Für den Aufwand, den sie bei der Luftwaffe betreiben, sind die Ergebnisse mehr als spärlich. Am Ende brauchen sie immer noch uns. Und abschießen kann man sie leichter als Tontauben.«
»Ja, die Reichweite der französischen Haubitzen hat alle überrascht. Sie sollten besser höher fliegen, aber dann sehen die Herren von da oben nicht mehr genug.«
Der Jüngere warf einen Blick auf Wilhelm, als versuche er zu ergründen, ob er das Gespräch verstanden hätte. Wilhelm wusste, dass es ein Test war. Was sie gesagt hatten, war kein Geheimnis. Er blickte unverändert geradeaus und schien in Gedanken versunken.
»Nicht einschlafen«, sagte der Ältere und stieß Wilhelm an.
Wilhelm schüttelte den Kopf. »Welchen Tag haben wir heute?«, fragte er, »ich habe das Zeitgefühl verloren.«
»5. September. Allmählich könnten sie hier mal die Ernte einfahren.« Er sah sich um und deutete auf die Kornfelder, deren schwere Rispen sich zu Boden neigten. »Aber wahrscheinlich haben sie anderes zu tun, sind ja auch keine ganz normalen Zeiten. Es ist Samstag, wenn Sie es genau wissen wollen.«
Wilhelm sah ihn an und nickte lächelnd. »Danke. Man fühlt sich besser, wenn man weiß, welcher Tag ist und …«
Ein schweres Grollen unterbrach ihr Gespräch, eine Rauchwolke stieg weit vorn am Horizont auf, Heulen erfüllte die Luft. Dann knallte es über ihren Köpfen. Die Reiter stoppten und blickten nach oben. Sie sahen eines der Aufklärungsflugzeuge auseinanderbersten, ein kurzer heller Blitz, dann segelten Bruchstücke langsam und in kreisförmigen Bewegungen zur Erde.
»Mein lieber Mann – ein einziger Schuss! Meist versuchen sie’s von mehreren Seiten und verfehlen trotzdem.«
»Und sie stehen nicht weit vor uns. Höchstens zehn Kilometer. Wir müssten bald auf den Fluss stoßen.«
Zunächst stießen sie auf anderes. Wilhelm hielt den Atem an, als sie an Toten vorüberritten, die am Wegrand lagen. Seine Begleiter schienen unberührt, sie verschärften das Tempo und sahen nach vorn. Die Toten waren Deutsche. Es wurden immer mehr. Sie lagen verstreut auf den Feldern, dazwischen tote Pferde, umgestürzte Wagen, verlassene Kanonen.
Nach einigen Minuten tauchte hinter einer Anhöhe ein Lager auf. Verletzte mit blutigen Verbänden an Armen, Beinen und Köpfen lagen am Boden, Sanitäter liefen zwischen ihnen umher, aus einem der Zelte waren Schreie zu hören. Soldaten, so weit das Auge reichte, Zelte und Baracken, Pferde, Wagen und schweres Gerät versperrten den Weg.
»Verfluchter Moltke!«, zischte der Ältere, »verlegt ganze Divisionen nach Russland, und dafür bleibt man hier dann stecken! Der Mann muss endlich weg, liegt sowieso nur im Krankenbett.«
Ein Offizier kam auf sie zu. »Sie kommen gerade recht«, sagte er und stellte sich ihnen in den Weg. »Wir können hier jeden Mann gebrauchen. Welche Kompanie?«
Statt einer Antwort griff der Ältere in seine Jackentasche, nahm einen Briefumschlag heraus und reichte ihn herunter. Der Offizier zog ein Monokel hervor, klappte es auf und hielt es vor seine Augen. »Jede Unterstützung gewähren, ja?«, schnaubte er, nachdem er den Brief gelesen hatte. Er reichte ihn zurück. »Wir sind es, die Unterstützung benötigen! Viel zu wenig Männer, keiner hat hier schon mit dem Franzmann gerechnet. Und dann ziehen sie auch noch Kompanien ab!«
»Ist bekannt, Herr Hauptmann«, erwiderte der Ältere. »Was soll man machen, Befehl ist Befehl. Die denken sich schon was dabei. Aber bevor sie denken, brauchen sie Denkfutter, und das sollen wir liefern. Also: Was ist über die feindlichen Stellungen bekannt?«
Statt einer Antwort deutete der Hauptmann auf Wilhelm. »Wer ist der da?«, fragte er. »Wie sieht er überhaupt aus?« Er musterte misstrauisch Wilhelms zivile Bekleidung.
»Kundschafter. Also: Wo steht der Feind?«
»Weiß keiner genau. Da vorn ist der Fluss, die Franzosen stehen auf der anderen Seite. Sie schießen zu uns herüber, wir zu ihnen.«
»Und manchmal schießen sie unsere Aufklärer ab.«
»Wie die Fliegen! Und dabei hatten wir gedacht, der Franzmann macht noch Urlaub.«
Alle drei nickten, der Hauptmann sah dabei Wilhelm an.
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