Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
seit zwei Tagen auf den Beinen.«
»Flüchtling?«
Wilhelm nickte. »Dinant.«
Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Komm«, sagte er, »ichgeb’ dir einen aus.« Ohne abzuwarten und sich umzudrehen, schlurfte er über den Platz. Wilhelm folgte ihm. Als er hinter dem Mann durch die Drehtür den Raum betrat, schlugen ihm dichter Zigarettenqualm und der Geruch von starkem Kaffee und Pernod entgegen. Er wusste jetzt, warum er auf der Straße fast niemanden gesehen hatte: Das Lokal war vollbesetzt, Männer und Frauen an Holztischen redeten lautstark durcheinander. Wilhelm und sein Begleiter standen in der Mitte des Raums, allmählich wandten sich die Blicke der Anwesenden ihnen zu. Die Gespräche verstummten.
»Wir haben Besuch«, sagte der Mann und deutete auf Wilhelm. »Direkt aus der Höhle des Löwen. Von Belgien über die Grenze gekommen, aus Dinant. Das sagtest du doch, oder?« Er sah Wilhelm direkt an und fragte: »Wie heißt du überhaupt?«
»Erique«, erwiderte Wilhelm, ohne zu zögern.
»Und wieso bist du allein?«
»Sie haben mich in ein Lager bei Chimay gebracht. Dort konnte ich fliehen.«
»Belgien war nur der Anfang«, meldete sich ein junger Mann zu Wort, der am Tresen lehnte. »Es dauert nicht mehr lange, dann sind sie hier! Es hieß immer, sie kämen von Westen, aber sie haben unsere Generäle getäuscht – sie kommen von Norden, dort, wo unsere Armee nicht ist. Sie haben freies Feld, sie brauchen nur loszumarschieren.«
»Hast du welche gesehen auf deinem Weg hierher?«, fragte ein anderer.
Wilhelm schüttelte den Kopf. »Aber das soll nichts heißen, es stehen über eine Million an der Grenze. Die stehen da nicht, um wieder nach Hause zu gehen.«
»Und unsere treiben sich immer noch im Elsass und in Lothringen herum. Foch, dieser Schwachkopf!«, rief der junge Mann und erhielt lärmende Zustimmung.
»Hast du Hunger?«, fragte eine der Frauen, als wieder Ruhe eingekehrt war. »Komm in die Küche.«
Sie verließ den Gastraum durch eine Schwingtür, Wilhelm war einen Moment lang unschlüssig. Als sein Begleiter ihm ermunternd zunickte, folgte er ihr. Auf einem Herd stand ein Topf, der den Duft von Kohl und Hammel verströmte. Die Frau lüftete den Deckel und sah hinein. »Ist fertig«, sagte sie. »Wieso hast du eine Jacke, wie unsere Bauern sie tragen, wenn du doch aus Belgien kommst?«, fragte sie, als sie einen Teller auffüllte.
»Gestohlen«, sagte Wilhelm. »Ich brauchte etwas anzuziehen.«
»Na, so was. Einem von unseren Bauern ist heute die Kleidung abhanden gekommen, während er sich im Fluss erfrischte. Lass es dir schmecken«, sagte sie und stellte den Teller auf einem kleinen, wackligen Tisch am Fenster ab. »Der Wein ist nicht mehr ganz kalt, aber immer noch besser als Wasser.« Sie stellte ein Glas Weißwein dazu.
Dann setzte sie sich rittlings auf den zweiten Stuhl und sah Wilhelm aufmerksam beim Essen zu.
»Sind Sie die Wirtin?«
Sie nickte. »Aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Sie werden bald hier sein. Und wenn sie sich hier so aufführen wie in Belgien, dann gute Nacht …«
»Warum sind keine französischen Truppen hier?«, fragte Wilhelm. »So seid ihr schutzlos. Was wollt ihr tun?«
»Angeblich hat General Foch seinen Fehler bemerkt, aber französische Soldaten waren noch nie die schnellsten. Wir werden uns selbst helfen müssen, bis sie hier sind. Wenn sie überhaupt kommen. Noch einen Teller?«
Wilhelm nickte. »Danke, es schmeckt vorzüglich. Und was soll bis dahin geschehen?«
»Darüber reden die Männer draußen gerade.« Sie deutete auf den Gastraum, aus dem Stimmen gedämpft hereindrangen. »Wir werden uns nicht abschlachten lassen. Jede Familie hier hat ein Jagdgewehr im Schrank.«
Wilhelm sah die Frau an. Sie mochte im Alter seiner Mutter sein, eine kräftige Frau mit zurückgebundenem Haar und offenem Gesicht. Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab, die sie über ihrem Kleid trug, und schenkte sich ebenfalls ein Glas Wein ein, das sie in einem Zug leerte.
»Erique«, sagte sie, »ein seltener Name für einen Belgier. Ich heiße Giselle. Wenn du fertig bist, komm rüber.« Damit erhob sie sich und verschwand durch die Schwingtür.
Wilhelm fühlte eine leichte Übelkeit, er hatte seit seiner Verhaftung nichts Anständiges mehr gegessen, der Wein stieg ihm in den Kopf. Langsam erhob er sich und folgte ihr.
Niemand beachtete ihn, als er in den Gastraum trat, alle lauschten einem großgewachsenen Mann in Polizeiuniform. »… bis unsere Leute
Weitere Kostenlose Bücher