Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sprang in den Sattel.
Als er sich nach einigen Minuten gestreckten Galopps umsah, war die Stadt nur noch ein Punkt am Horizont. Doch was er vor sich sah, ließ seinen Atem stocken: Eine riesige Staubwolke verdunkelte den Horizont von Ost nach West, so weit das Auge reichte. Der Vormarsch der deutschen Streitmacht schien in rasendem Tempo zu verlaufen, ihr Ziel, die Marne zu überqueren und auf Paris zuzumarschieren, bevor die französischen Truppen sich neu formieren konnten, schien in greifbare Nähe gerückt.
Wilhelm wusste nicht, wo genau er sich befand, die Namen der Dörfer, an denen er vorüberritt, waren ihm unbekannt. Er wusste jedoch, dass er nicht mehr lange allein und unbehelligt durch die nordfranzösische Landschaft reiten würde – der deutsche Nachschub konnte nicht weit hinter ihm sein. Er saß in der Falle.
Die Entscheidung, in welche Richtung er sich wenden sollte,wurde ihm abgenommen, als das Pferd zu lahmen begann. Zuerst vermutete er, es hätte sich einen Stein in den Huf getreten. Er stieg ab und inspizierte die Hufeisen. Er fand nichts. Als er wieder aufstieg und anritt, war klar, dass das Pferd ihn nicht weiter bringen würde: Es zog den linken Hinterlauf nach, schließlich blieb es stehen.
Wilhelm stieg ab, streichelte ihm über die Nüstern, und sagte: »Dann kannst du dir jetzt selbst deinen Weg suchen«, und gab ihm einen Klaps auf die Flanke. Das Pferd drehte sich um und begann langsam den Weg zurückzutrotten, den es mit Wilhelm gekommen war. Er sah ihm eine Weile nach, dann setzte er sich unter einen Baum. Die Müdigkeit breitete sich sofort in seinem Körper aus, er versuchte gar nicht erst dagegen zu kämpfen.
Kartoffeln
Wilhelm wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Er sah direkt in die Sonne, die als roter Ball tief am Horizont stand. Davor zogen in endloser Reihe Pferdefuhrwerke vorbei, die Konturen von Soldaten in grauen Mänteln und Pickelhauben zeichneten sich in der Abenddämmerung ab. Wilhelm erhob sich und machte sich auf den Weg. Nach wenigen Minuten erreichte er die Straße, auf der sich die Karawane entlangwälzte.
Zunächst beachtete ihn niemand. Er stand am Straßenrand und betrachtete die Männer, die sich in aufgekratzter Stimmung lebhaft unterhielten. Es dauerte eine Weile, bis sich ein Reiter löste und auf ihn zukam. Es war ein Offizier. Er hielt vor Wilhelm und beugte sich zu ihm hinunter. »Wie weit ist es bis Reims?«, fragte er. Wilhelm sah ihn an und zuckte die Achseln.
»Sprichst du deutsch?«
Wilhelm nickte. »Ein wenig.«
»Wohin willst du, warum stehst du hier herum?«
»In mein Dorf«, erwiderte Wilhelm und deutete in die entgegengesetzte Richtung.
Ein zweiter Reiter kam hinzu, sah Wilhelm abschätzend vonoben bis unten an und sagte dann: »Das kann noch ein wenig auf ihn warten. Sagen Sie ihm, er soll auf den Wagen.« Er drehte sich um und zeigte auf ein Fuhrwerk, das hinter ihnen heranrumpelte. »Wir können noch Leute zum Kartoffelschälen gebrauchen.«
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichte der Zug ein Dorf. Es schien verlassen, dann traten mehrere Frauen und Männer mit erhobenen Händen aus den Bauernhäusern. »Ah, sie haben also schon gelernt, wie man Deutsche begrüßt«, rief einer der Soldaten. »Wenn sie nun auch noch was Schönes auf dem Herd stehen haben, könnte man sie richtig mögen!«
Ein Offizier stellte sich vor die Soldaten. »Keine Übergriffe!«, rief er, »und keine Fraternisierungen! Offiziere in die Häuser, Mannschaften in die Scheunen! Und die Franzosen an die Kartoffeln.«
Jetzt erst bemerkte Wilhelm, dass er nicht der einzige Zivilist war, der mit dem Tross eingetroffen war, man hatte weitere aufgelesen und mitgenommen fürs Kartoffelschälen oder andere Aufgaben. Von mehreren Wagen kletterten Männer und Frauen und wurden in eine Scheune geführt, in der die Proviantwagen abgestellt worden waren. Dann wurden Blechwannen aufgestellt. »In einer Stunde sind die voll!«, befahl einer der Soldaten und schloss das Tor hinter ihnen.
Schweigend machten sich die zehn Männer und fünf Frauen an die Arbeit. Sie saßen im Kreis um einen Berg Kartoffeln, der auf den Boden geschüttet worden war, und schälten. Zwei der Frauen weinten, andere versuchten sie zu trösten.
»Sie werden uns nichts tun«, beruhigte eine der älteren Frauen sie und wandte sich dann zu Wilhelm, der neben ihr saß. »Anders herum«, sagte sie, »Kartoffel links, Messer rechts. Oder bist du Linkshänder?«
Wilhelm folgte ihrem Rat und
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