Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
kommen«, sagte er gerade, als Wilhelm sich an den Tresen zu einer Gruppe von Bauern stellte. Die Menge schwieg, und der Polizist sah von einem zum anderen. »Seid ihr bereit?«
»Und die Frauen und Kinder?«, fragte einer.
»Sie werden vorher die Stadt verlassen, in Sicherheit gebracht. Aber es muss gleich geschehen, wir müssen uns jetzt entscheiden und sofort beginnen.«
Sein Vorschlag wurde angenommen, einer nach dem anderem erhob sich und strebte dem Ausgang zu.
»Um sechs bei der Polizeistation«, rief er ihnen nach.
Der Raum leerte sich schnell, Wilhelm blieb mit dem Polizisten und Giselle allein. »Und du«, wandte sich der Polizist an ihn, »du könntest uns helfen. Wir brauchen jeden, der ein Gewehr halten kann. Ich nehme an, das kannst du?«
Wilhelm nickte.
»Und gestärkt bist du jetzt auch. Also: Bist du dabei?«
»Ich weiß zwar nicht genau wobei«, erwiderte Wilhelm, »aber wenn es gegen die Deutschen geht, glaube ich nicht, dass ein paar Bauern gegen ihre Kanonen viel ausrichten können. Ohne die Hilfe eures Militärs seid ihr besser beraten, keinen Widerstand zu leisten.«
Der Mann sah ihn ernst an. »Man hat gesehen, was die Belgier davon hatten – das musst du doch am besten wissen. Zurückhaltung zahlt sich nicht aus. Wir wissen zwar nicht, ob sie heute Nacht schon kommen, aber wir können es nicht drauf ankommen lassen. Also, wenn du dich nützlich machen willst: Um sechs ist Waffenausgabe bei der Polizeistation. Gib ihm noch einen Teller, Giselle«, sagte er und wandte sich zum Gehen, »er kann uns nur helfen, wenn er bei Kräften ist.«
*
Wilhelm lag auf dem Dach des Rathauses, neben sich ein Jagdgewehr, und starrte in die Dunkelheit. Sechs Bewohner der Stadt hatten hier Stellung bezogen, die übrigen waren auf Häuser am Ortsrand verteilt. Das Rathaus überragte alle anderen Gebäude, bei Tag konnte man weit ins Land hinein sehen, jetzt umgab es schwärzeste Dunkelheit. Niemand sprach ein Wort. Wilhelms Anwesenheit war wohlwollend zur Kenntnis genommen worden, darüber hinaus hatte ihm niemand Fragen gestellt.
Nachdem der Polizist gegangen war, hatte sich Wilhelm auf einer Bank im Gastraum zum Ausruhen ausgestreckt. »Ich weiß, was du denkst«, sagte Giselle, »aber die Männer haben recht: Selbst wenn wir keine Chance haben – wir werden den Deutschen unsere Stadt nicht einfach überlassen.« Damit hatte sie ihn allein gelassen, aber es gelang ihm nicht, Schlaf zu finden. Seine Situation erschien ihm vollkommen unwirklich, er konnte es nicht glauben, im Feindesland zu sein und möglicherweise schon bald auf Landsleute zu schießen. Aber er hatte keine andere Wahl, einen Weg zurück gab es nicht. Sollte er Deutschen in die Hände fallen, wartete das Kriegsgericht auf ihn. Und diesmal würde man ihm keine Gelegenheit geben, ›die Sache‹ aus der Welt zu schaffen.
Er dachte an Robert, der seine Verhaftung hilflos hatte mit ansehen müssen. Er hatte ihm zuvor nichts von seinem Brief erzählt. Als Wilhelm abgeführt wurde, rief Robert ihm nach, das Missverständnis würde sich schnell aufklären, er würde alle Hebel in Bewegung setzen. Was, wenn Robert zu den Ersten gehörte, die in Frankreich einritten, wenn er ihm heute Nacht oder morgen gegenüberstünde?
Wilhelm hatte keinen Zweifel daran, dass es nur eine Frage von Stunden war. Jetzt, nachdem Belgien am Boden lag, würde man keine Zeit verlieren, endlich das ersehnte Ziel anzustreben: so schnell wie möglich auf Paris zu marschieren und die Hauptstadt einzunehmen.
Um sechs war Wilhelm zur Polizeistation gegangen, wo wieangekündigt alle Männer des Ortes bewaffnet wurden, sofern sie nicht ihr eigenes Gewehr mitgebracht hatten. Man nahm kaum Notiz von ihm, nur der Polizist knurrte ein kaum hörbares »Na, ausgeschlafen?«, als er ihm ein Gewehr in die Hand drückte.
Jetzt in der Dunkelheit auf dem Dach des Rathauses überfiel ihn die Müdigkeit, auf die er zuvor vergebens gewartet hatte. Er griff in die Jackentasche und nahm den Stein zur Hand. Wenn ich hier lebend herauskomme, dachte er, wenn hier überhaupt jemand überlebt – nichts wird mich dann noch aufhalten können, nach Lagarde zu gehen. Adèle – im Stillen wiederholte er ihren Namen wieder und wieder, der Gedanke an sie half ihm, nicht einzuschlafen.
Und dann hob sich die Finsternis wie ein Theatervorhang. Zuerst sah er seine Hände, dann den Rand des Daches, dann die Schornsteine der Häuser um sich herum. Und dann sah er die Staubwolke am
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