Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Männer, »vor zwei fängt der Franzmann nicht wieder an.«
Die Männer sprangen von der Ladefläche des Lastwagens. »Na endlich!«, rief ein Feldwebel. »Abschnitt fünf! Alle Mann im Laufschritt!« Sie rannten zu einem Graben und sprangen hinein. Er war gerade so tief, dass ein Mann von normaler Körpergröße aufrecht darin stehen konnte, ohne dass sein Kopf herausragte, und so breit, dass zwei Männer aneinander vorbeigehen konnten. Die Erdwände zu beiden Seiten, die von Holzpfählen gestützt waren,glänzten schwarz, im Abstand von zehn Metern waren Einbuchtungen in die Wände gegraben, in denen Soldaten standen und etwas aßen.
»Nicht einschlafen!«, wurden sie zur Eile angetrieben. Sie hasteten durch ein Grabenlabyrinth, das sich immer wieder gabelte und verzweigte. Plötzlich standen sie vor einem Erdwall – ein Mine war eingeschlagen, die Wände abgesackt, Steine und Geröll blockierten den Durchgang. »Freimachen! Schnell, bevor es wieder losgeht!«, befahl der Feldwebel.
Sie begannen zu schaufeln. Nach wenigen Minuten war ein erster schmaler Durchgang hergestellt, dann rutschte die Erde von der Seite nach und schüttete alles wieder zu.
Sie verstärkten ihre Anstrengung. Mit einem Aufschrei sprang plötzlich einer der Männer zur Seite: Ein Körper rollte mit dem Gestein auf ihn zu und riss ihn um. Andere sprangen herbei und zogen ihn unter dem Toten hervor. »Weiter, weiter«, rief der Feldwebel, »der Durchgang muss frei werden!« Kurz darauf hatten sie es geschafft und blickten in den Grabenabschnitt vor ihnen, der voller Männer war, die erschöpft an den Wänden lehnten oder am Boden saßen. »Wo wart ihr so lange, ihr Idioten?«, schrie einer von ihnen. »Wir warten seit drei Stunden auf Entsatz!«
»Entsatz kommt später!«, entgegnete der Feldwebel, »wieder nach vorn. Sofort!«
Die Soldaten drehten sich wortlos um und gingen den Graben zurück, den sie gekommen waren. Zurück blieben ein halbes Dutzend, die sich nicht rührten. »Legt die Toten zur Seite«, sagte der Feldwebel, »und dann weiter nach vorn, da wartet noch reichlich Arbeit!«
»Jetzt darfst du gleich am ersten Tag in den Frontgraben«, sagte Leopold, der neben Wilhelm lief, »große Ehre!« Nach hundert Metern erreichten sie einen breiteren Graben, und im selben Moment setzte ohrenbetäubender Donner ein, in den sich das Knattern von Maschinengewehren und das Heulen von Schrapnellminen mischte, die über den Graben hinwegzischten. »Das sind unsere!«, schrie Leopold. Wilhelm spürte die Erschütterungen im Boden, als die Geschosse auf der anderen Seite einschlugen. »Zu weit, alle zu weit!«, rief Leopold wütend, »da lacht der Franzmann doch nur.«
Der tosende Lärm schwoll weiter an, als von der anderen Seite zurückgeschossen wurde. Die Männer drückten sich an die Wände des Grabens und pressten ihre Hände auf die Ohren. Sand und Steine spritzten auf, wenn ein Geschoss in ihrer Nähe einschlug. »Vorwärts, weiter!«, hörte Wilhelm den Feldwebel schreien. »Einbruch links!«
Sie erreichten einen weiteren Graben und standen plötzlich vor einem riesigen Erdhaufen. »Weg!«, schrie der Feldwebel, »der muss weg!« Wilhelm grub in vorderster Linie. Immer wieder stieß seine Spatenspitze auf Metall, mal war es ein Gewehr, mal ein Helm, mal ein Säbel. Die Explosion hatte offenbar viele Männer verschüttet.
Nachdem sie einen Durchgang gegraben hatten, stießen sie auf eine Gruppe Soldaten, die auf etwas zu warten schienen. Konzentriert horchten sie, die Gewehre auf den Knien, dem Geschützdonner. Dann hob einer den Arm. »Unsere Artillerie!«
Der Geschützlärm übertraf nun alles Vorherige – ein ungeheueres Trommelfeuer über mehrere Minuten, das ebenso abrupt endete, wie es begonnen hatte. »Jetzt!«, schrie der Soldat. Die Männer sprangen auf, kletterten auf Leitern die Wand des Grabens hoch und stürmten mit vorgehaltenen Gewehren los. Dann waren sie aus dem Blickfeld verschwunden.
Wilhelm sah sich um. Für einen Moment stand er allein im Graben. Er hatte das Gefühl, die Zeit stünde still. In seinen Ohren rauschte es, das Grollen drang nur noch wie aus großer Ferne zu ihm. Nichts rührte sich. Dann sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Zuerst glaubte er, es sei ein Hund. Dann grub sich ein zweites Tier aus dem Schlamm, dann ein drittes – Ratten. Ohne Wilhelm zu beachten, trippelten sie an ihm vorbei zu einem Toten. Die größte von ihnen kletterte auf seine Brust und stieß sofort ihre Schnauze
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