Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
im Zuchthaus.«
*
Der Brief, der einige Tage später eintraf, hatte, wie man am Poststempel erkennen konnte, neun Wochen gebraucht, um von Lagarde nach Berlin transportiert zu werden. Und er war bereits geöffnet worden. »Das kenne ich schon«, sagte Elisabeth zu Robert, der zum Abendessen gekommen war, und seufzte: »Der Brief, den ich in Hamburg von dir erhalten habe, war ebenfalls vorher geöffnet worden.«
Sie ließ sich in einen Sessel fallen, um zu lesen – und sprang fast augenblicklich mit einem Aufschrei wieder hoch. »Er lebt!«, rief sie. »Helène schreibt, dass Wilhelm in Lagarde war. Für wenige Tage nur – aber er war da!«
Robert lächelte erleichtert und fragte dann unvermittelt: »Schreibt sie auch, ob Adèle dort war?«
»Nein«, antwortete Elisabeth, »davon steht hier nichts.«
Robert sah Elisabeth nachdenklich an. »Wir wissen beide, was sie ihm bedeutet«, sagte er. »Ich war bei der großen Verlobungsfeier in diesem Haus dabei – und ich habe mich nicht wohl in meiner Haut gefühlt.«
Elisabeth nickte. »Das ging mir ebenso.«
»Ich habe Charlotte getroffen«, sagte er langsam. »Sie war das erste Gesicht, das ich im Feldlazarett sah, als ich nach der Amputation wieder zu mir kam.«
Elisabeth erhob sich langsam und starrte ihn ungläubig an. »Was?«, sagte sie. »Das musst du geträumt haben. Sie ist in Togo.«
Robert schüttelte den Kopf. »Da ist sie nicht mehr. Sie hat das letzte Schiff genommen, bevor Togo an die Franzosen und Engländer fiel.«
»Aber warum ist sie nicht in Berlin? Was macht sie in Frankreich?«
»Sie arbeitet im Lazarett. Sie ist Krankenschwester.«
»Und mein Vater – wusste sie etwas über ihn?«
Robert schüttelte den Kopf. »Alle haben überstürzt das Land verlassen.«
Elisabeth setzte sich langsam wieder und nahm den Brief zur Hand. »Endlich können wir den Jungen mal eine gute Mitteilung machen«, sagte sie, »sie werden außer sich sein vor Freude. Sie lieben Wilhelm und würden alles für ihn tun.«
Robert nickte. »Ich weiß, das geht mir ebenso. Aber ich freue mich noch aus einem anderen Grund.«
»Dass du lebst?«
Robert lachte. »Das auch. Aber noch mehr darüber, dass ich hier bei dir sein darf.«
Sie senkte den Blick. »Ich freue mich auch«, antwortete sie leise.
8 . Verdun
Verpasst
Wilhelms Plan, sich nach Straßburg durchzuschlagen und von dort mit dem Zug nach Berlin zu fahren, erwies sich als undurchführbar. In Elsass-Lothringen wimmelte es von deutschen Soldaten, es war Aufmarschgebiet für die nachrückenden Truppen geworden, die sich für die große Offensive auf Verdun sammelten. Alle Bahnverbindungen standen nur noch dem Militär zur Verfügung. Niemand kümmerte sich um Zivilisten, am allerwenigsten um Franzosen. Für Wilhelm war das ein Segen, jetzt zahlte sich der Privatlehrer aus, den seine Eltern engagiert hatten: Sein Französisch war perfekt, sogar der Elsässer Dialekt kam ihm leicht über die Lippen. Man hielt ihn für einen Franzosen.
Eine Rückkehr nach Lagarde war ausgeschlossen, die deutsche Grenze zu Fuß zu überqueren, um nach Straßburg zu gelangen, war nicht möglich. So blieb ihm keine andere Wahl, als das zu tun, was viele Franzosen taten: Tausende, deren Dörfer und Häuser zerstört waren, irrten durch das Vorland der Vogesen und suchten nach einem Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Ganze Familien zogen mit Handwagen von Dorf zu Dorf, manche hatten das Glück, an die Tür eines großzügigen Bauern zu klopfen. Die meisten jedoch trafen auf Menschen, die verstört, verängstigt und außerstande waren, anderen zu helfen, denen es noch schlechter ergangen war als ihnen.
Wilhelm bewegte sich immer nahe der Grenze in der Hoffnung, doch noch eine Möglichkeit zu finden, nach Deutschland zu kommen. Es war kalt geworden, der Jahreswechsel hatte einen heftigen Wintereinbruch gebracht. Wilhelm zog im Gefolge einer Gruppe von Franzosen, die aus der Gegend um Nancy stammte und seit Monaten obdachlos umherirrte, auf dem Weg von Gérardmer nach Ribeauville. Keiner sprach, jeder war damit beschäftigt, seinen Hunger zu bekämpfen und die Kälte auszuhalten. Ein zerlumpter Alter lehnte am Wegesrand an einem Strommast und sah Wilhelm mit weit geöffneten Augen entgegen, als kenne er ihn. Doch als Wilhelm sich näherte, erkannte er, dass der Mann mit leerem Blick durch ihn hindurch sah.
Wilhelm blieb stehen und sprach ihn an. Der Mann reagierte nicht. Als er nah an ihn herantrat, bemerkte er den Geruch:
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