Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
in sein Gesicht. Wilhelm erwachte aus seiner Erstarrung. Mit einem Schrei stürzte er sich auf die Ratten und schlug mit dem Spaten auf sie ein. Eine erwischte er mit dem ersten Schlag, die scharfe Kante des Spatens halbierteihren Körper. Zwei von ihnen huschten in das Loch zurück, aus dem sie gekommen waren.
Die Größte jedoch stand Wilhelm direkt gegenüber und sah ihn an. Wilhelm holte aus, verfehlte sie, und das Tier sprang mit einem einzigen Satz an seine Brust, wo es sich festklammerte. Seine Nasenspitze zitterte direkt vor seinen Augen, als ein Schuss krachte und das Tier zu Boden fiel.
Jetzt erst merkte Wilhelm, dass neben ihm ein Soldat stand, eine Pistole in der Hand, und auf das Tier herabsah, das zu Wilhelms Füßen auf dem Rücken lag. Hinter ihm tauchte Leopold auf, der die Situation sofort erfasste. »Na, hast du gleich Bekanntschaft mit unseren Lieblingshaustieren gemacht?« Er deutete auf die Ratte. »Deine wievielte?«, fragte er den Soldaten. »Nummer dreiundsiebzig«, antwortete dieser, »schwer zu treffen, das Aas, saß auf seiner Brust.«
»Komm«, sagte Leopold, »weiter vorn ist eine Wand abgerutscht. Es gibt noch viel Arbeit!« Nach hundert Metern stießen sie auf einige ihrer Kameraden, die damit beschäftigt waren, Verschüttete aus einem Geröllberg zu ziehen. »Das waren unsere eigenen Granaten«, sagte Leopold leise zu Wilhelm, »heute zielen sie wieder hundsmiserabel. Erst zu weit, dann viel zu kurz.«
*
Die Arbeit in den Gräben dauerte zwei Wochen. Wilhelm merkte schnell, dass sie nicht die einzige Schaufel-Abteilung waren: Ein Dutzend Einheiten wurden an den Frontgräben hin und her gefahren, um jederzeit an gefährdeten oder bereits eingestürzten Grabenabschnitten helfen zu können. Ein Verfahren, dem die Hälfte der Männer zum Opfer fielen: Jeden Morgen wurde die Abteilung mit frischen Männern aufgefüllt. Keiner wusste, woher sie kamen, warum sie verurteilt worden waren. Niemand fragte danach.
Am fünfzehnten Tag blieb der Befehl zum Ausrücken aus. Es war ein kalter, sonniger Februarmorgen. Wilhelm trat vor das Zelt, in dem sie übernachtet hatten. Die Geräuschkulisse der nahen Front war schwächer als sonst. Die Soldaten, die aus denZelten und Unterständen kamen, sammelten sich und traten an, auch die Schaufel-Abteilung nahm Aufstellung. Dann erschien der zuständige Offizier. Er hieß Baldauf, wie Wilhelm mittlerweile erfahren hatte, Major Werner Baldauf. Er hielt eine kurze Ansprache, die Verwunderung und Erleichterung zugleich hervorrief. »Der Frontabschnitt wird aufgegeben«, verkündete er den Männern. »Alle, die länger als zwei Wochen hier sind, gehen in die Etappe. Die übrigen halten sich zur Verfügung. Wegtreten!«
Wilhelm wollte eben zusammen mit Leopold und einigen anderen das Zelt der Entlausungsstation betreten, als der Bursche des Majors hinter ihn trat. »Der Herr Major wünscht Sie zu sprechen«, sagte er und drehte auch schon wieder ab. Wilhelm sah Leopold fragend an. »Das ist noch nie passiert«, sagte Leopold leise. »Sei vorsichtig!«
Wilhelm folge dem Burschen, der ihn zu einem Wagen führte. Als Wilhelm herangetreten war, wurde ein Fenster heruntergekurbelt, Baldaufs Gesicht erschien. Wilhelm salutierte, lässig winkte der Major ab. Er sah Wilhelm eine Weile schweigend an. »Hier ist erst mal Schluss«, sagte er dann und deutete auf das verwüstete Gelände rings umher. »In Kürze geht’s weiter. Dann aber richtig. Verdun. Harte Nuss. Wenn wir sie knacken, fällt auch Paris.«
Wilhelm war verblüfft über die Worte des Majors. Er war Mitglied einer Strafkompanie – warum wurde ihm so etwas mitgeteilt? Als hätte er Wilhelms Gedanken gelesen, sagte Baldauf: »Ich kenne Ihre Geschichte. Und sie ist mir vollkommen egal. Idiotisch, jemanden wie Sie schaufeln zu lassen. Schwachsinnig. Mein Angebot: Melden Sie sich freiwillig. Sie wären ganz vorn dabei. Sturmtrupp. Mein Bursche sucht Sie in Kürze auf. Sagen Sie zu. Dann können Sie den Spaten wegwerfen.«
Das Fenster schloss sich, und der Wagen fuhr an. Verwundert blickte Wilhelm ihm nach. »Ich finde Sie dann in der Etappe«, sagte der Bursche. »Gute Erholung.« Damit entfernte auch er sich.
*
Wilhelms Abteilung war nach Etain marschiert, eine der wenigen Städte, deren Häuser zum größeren Teil unbeschädigt geblieben waren, und hatte in einem Schulgebäude nahe dem Bahndamm Quartier genommen. Die Gerüchte überschlugen sich, die Gespräche der Männer drehten sich um den
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