Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
faulendes Fleisch. »Wo sind Sie verletzt?«, fragte er. Der Mann versuchte, einen Arm zu heben. Sein Mantelärmel rutsche ein Stückchen hoch, und Wilhelm sah das rohe Fleisch am Unterarm.
»Nicht weit von hier ist ein Lazarett«, sagte er. »Sie behandeln dort auch Zivilisten. Kommen Sie, stützen Sie sich auf mich!« Vorsichtig legte er den gesunden Arm des Mannes um seine Schulter, dann half er ihm Schritt für Schritt voran.
Am Abend erreichten sie das Lazarett, ein großes, eingezäuntes Areal mit Zelten und eilig zusammengezimmerten Holzhäusern. Wilhelm näherte sich mit dem Verletzten einem Wachposten, der sie kurz ansah und dann durchwinkte. »Baracke 9. Franzosen, oder?«
Wilhelm tat, als habe er ihn nicht verstanden. »Schon gut«, sagte der Soldat, »da hinten.« Er deutete auf ein kleines Haus am Ende des Geländes.
Leichtverwundete standen im kalten Wind und rauchten Zigaretten. Wilhelm, der jetzt seine letzten Kräfte mobilisieren musste, bemerkte den Soldaten nicht, der mit verbundenem Kopf an der Wand eines Gebäudes lehnte und dem vor Verblüffung die Zigarette aus dem Mund fiel, als er Wilhelm sah. Auch dass er umgehend zur Kommandantur eilte, entging Wilhelm.
Nachdem er seinen Verletzten an einen Sanitäter übergeben und sich bedankt hatte, ging er langsam den Weg zurück, den er gekommen war. Dieses Mal sah er den Mann mit dem Kopfverband, der flankiert von zwei Soldaten auf ihn zukam und vor ihm stehen blieb. Er erkannte ihn sofort.
»Das ist der Mann!«, sagte Huber und sah Wilhelm mit hasserfüllten Augen an. Die Soldaten richteten wortlos ihre Pistolen auf Wilhelm, dann ergriffen sie seine Arme und führten ihn ab.
S chaufeln
Der Mann hatte eine angenehme, vertrauenswürdige Stimme. Wilhelm hätte gern sein Gesicht gesehen. Der Mann saß jedoch im dunklen Teil des Raumes.
»Nun, wie fühlt man sich als Verstorbener?«, fragte er. »Man sagt ja, Verstorbene fühlen gar nichts. Aber wer weiß das schon? Man kann sie ja nicht danach fragen. Welch’ eine einmalige Gelegenheit für mich, mit Ihnen zu sprechen.«
Wilhelm antwortete nicht. Seit langem hatte niemand mit ihm geredet. Und jetzt dies! Er wusste nicht, wo er sich befand, wie viel Zeit vergangen war, wer da das Wort an ihn richtete.
»Sie brauchen mir nicht sofort zu antworten«, sagte die Stimme, »was ich Ihnen zu sagen habe, ist Folgendes: Nachdem Ihre Hinrichtung wegen Hochverrats und Fahnenflucht nun schon einige Zeit zurückliegt, haben wir neue Aufgaben für Sie. Die Heeresleitung vertritt die Überzeugung, dass auf fähige und gut ausgebildete Männer nicht verzichtet werden kann. Die übrige Welt geht zwar davon aus, dass Sie Ihre gerechte Strafe erhalten haben, Sie und ich wissen jedoch, dass Sie hier in diesem Bunker sitzen. Oder wussten Sie das gar nicht? Egal. Mein Angebot: Sie treten einem Spezialbataillon bei, das Aufgaben zu erledigen hat, die normalen Soldaten nicht zugemutet werden können. Dafür lassen wir Sie wieder ans Tageslicht. Eine Wiedergeburt sozusagen …«
Wilhelms Gedanken rasten. Während der Zeit der Isolation nach seiner Verhaftung im Lazarett hatte er sich gewundert, dass keine Verhöre, keine Verhandlung, keine Verurteilung erfolgt waren. Jetzt begann das Ganze einen Sinn zu ergeben.
»Um Ihre Fragen zu beantworten«, sagte er und wunderte sich über den Klang seiner Stimme, die – rau und leise – in seinen Ohren wie die eines Fremden klang. »Nein: Verstorbene fühlen nichts. Aber sie können denken.«
Der Mann klatschte in die Hände. »Großartig«, rief er, »großartig! Ich wusste, dass heute ein ganz besonderer Tag für mich sein würde. Und Ihnen kann ich versichern: Sie haben eine goldrichtige Entscheidung getroffen. Denn andernfalls hätten Sie noch heute das Zeitliche gesegnet – und diesmal wirklich.«
Wilhelm hörte, wie ein Stuhl gerückt wurde. Offenbar machte sich der Mann zum Gehen bereit.
»Darf ich noch etwas hinzufügen?«, fragte er.
Der Mann blieb stehen.
»Warum so lange?«, fragte Wilhelm.
»Wie meinen?«
»Warum erst jetzt?«
»Nun, die Erfahrung hat uns gelehrt, dass gerade die stolzesten unter unseren jungen Helden, die besten und tapfersten sozusagen, ein wenig mehr Zeit brauchen, um bereit zu sein, ihren Heldentod zu verschieben. Anders gesagt: Vor einem Jahr hätten Sie mein Angebot abgelehnt, und wir hätten Sie erschießen müssen. Das wäre schade gewesen. Jetzt können Sie sich vorher noch nützlich machen.«
Mit diesen Worten verließ der
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