Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
geschafft, sie abzuschütteln und unser Land neu aufzubauen. Wir haben unseren Stolz, und wir haben unseren eigenen Dialekt, für den uns die Franzosen verspotten. Aber immerhin: Seit 1871 steht in Paris die Marmorstatue der ›Tochter Elsass‹, und sie haben sie in schwarzes Tuch gehüllt aus Trauer darüber, dass Elsass und Lothringen von den Boches besetzt sind. Ja, sie haben es auch nicht immer leicht gehabt, die Franzosen«, sagte er wie zu sich selbst. »Euer Kaiser hat sich in Versailles krönen lassen – in ihrem Versailles! Die fünf Milliarden Goldfrancs, die die Franzosen den Deutschen als Reparation für den verlorenen Krieg zahlen müssen – die Verlierer müssen immer zahlen, merk dir das –, sind nichts im Vergleich zu dieser Demütigung. Aber selbst das ist nichts, verglichen mit dem, was den Menschen hier angetan wird. Die Leute sagen, dass aus eurem Volk der Dichter und Denker ein Volk der Richter und Henker geworden ist – ihr werdet gehasst. Wir sind eine deutsche Kolonie, nichts anderes. Aber unser Land hat darüber hinaus eine ganz besondere Bedeutung für sie, eine strategische Bedeutung, mein Junge. Wir sollen das Sprungbrett sein, das den Deutschen zur endgültigen Zerschlagung Frankreichs dienen soll.«
Sie waren stehen geblieben, und Wilhelm sah ihn verblüfft an ob des langen Vortrags. Printemps nickte, als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, schwieg eine Weile, dann wechselte er das Thema. »Deine Mutter stammt aus einer angesehenen Familie, ihr Familienname lautet d’Alsace, das sagt alles. Ich habe deine Großmutter gut gekannt, mein Vater hat von ihr diese Weinberge gepachtet, seit fünfzig Jahren bauen wir hier Wein an. Deine Großmutter ist eine gute Frau, und ihr Mann war es auch. Er hat seine Pächter immer anständig behandelt und viel zu wenig Geld genommen für den Grund und Boden, den er ihnen überließ. Und dann hat ihre Tochter – deine Mutter – sich in diesen Mann aus Preußen verliebt, wie heißt er doch gleich: Schwemer,von Schwemer, nicht wahr? Ausgerechnet ein Preuße. Ein Belgier, bon! Ein Niederländer, bon! Sogar ein Engländer oder Österreicher – aber warum ausgerechnet ein Preuße? Egal – du bist das Ergebnis dieser entente cordiale .« Er sah Wilhelm durchdringend an. »Wenn wir Lothringer etwas gemeinsam haben mit den Franzosen, dann dies: Wir achten die Liebe, sie ist das Höchste, zu dem der Mensch fähig ist. Und ich achte sie auch dann, wenn sie auf preußischen Boden fällt.«
Wilhelm fühlte sich unbehaglich, er spürte ein Pochen im Arm. Printemps schien es zu merken. »Ich weiß nicht, welche Heldentaten du in Afrika vollbracht hast«, sagte er und deutete auf Wilhelms Verband, »es spielt auch keine Rolle. Denn wenn meine Tochter dich liebt, werde ich das respektieren. Aber merk dir eins: Wenn sie durch dich in irgendeine Gefahr gerät, dann werde ich kein Erbarmen mit dir haben …«
Jetzt reagierte Wilhelm. »Sie sind es, der sie in Gefahr bringt, Monsieur!«, sagte er aufbrausend. »Es geht so weit, dass sie sich verstecken muss, weil Sie sie in diese Unabhängigkeitssache hineingezogen haben! Jetzt sage ich Ihnen etwas: Wenn ich feststellen sollte, dass sie da nicht freiwillig mitmacht und womöglich gar nicht weiß, wie gefährlich diese Dinge sind …«
»Lass gut sein«, fiel ihm Bontemps mit matter Stimme ins Wort, »wir können uns gegenseitig drohen, ja – mal sehen, wem da am meisten einfällt. Aber es gibt andere schreckliche Dinge, die sich am Horizont zusammenballen, Dinge, die uns alle betreffen, alle, die wir hier in Europa leben. Ich achte und respektiere die Wünsche und Gefühle meiner Tochter, und wenn es unbedingt ein preußischer Junker sein soll – mon dieu! –, dann soll es eben so sein …«
»Ich bin kein Junker!«, brauste Wilhelm erneut auf.
Printemps nickte begütigend. »Ja ja, pardon! Wie lange wirst du bleiben?«
»Bis mein Arm wieder aus der Schlinge kommt, länger nicht. Meine Ausbildung wartet auf mich, ich bin nur vom Militärdienst freigestellt.«
»Sei vorsichtig. Am besten erzählst du deiner Mutter nicht, dass du Adèle getroffen hast.«
Mit diesen Worten drehte Printemps sich um und ging den Pfad zurück, Wilhelm folgte ihm. Als sie sich trennten, sagte Printemps noch: »Ich werde jetzt tun, was du ja schon im Haus mitgehört hast, und ich gehe davon aus, dass du es für dich behältst. Und ob Adèle morgen zu ihrer Tante nach Verdun fährt – diese Entscheidung überlasse ich
Weitere Kostenlose Bücher