Zeiten des Verlangens
Menschen bei der Suche nach dem nächsten Roman helfen, der sie begeistern würde, oder nach dem Buch, das ihnen bei der Recherche half, damit sie ihren Abschluss bestanden oder ein intellektuelles Problem lösen konnten. Dieses Ziel hatte sie seit ihrer Kindheit zu keinem Zeitpunkt aus den Augen verloren.
Und jetzt war ihr Traum in Erfüllung gegangen, so klein und lachhaft er jemandem wie Carly Ronak erscheinen mochte, die in ihrer Kindheit davon geträumt hatte, die nächste Tory Burch zu werden.
»Freut mich zu hören«, meinte Carly. »Hör zu, bei mir übernachtet heute ein Freund. Ich hoffe, wir gehen dir nicht im Weg um.« Damit drückte sie in Wirklichkeit ihre Hoffnung aus, dass Regina den Anstand besaß, in ihrem Zimmer zu bleiben und ihnen nicht im Weg umzugehen.
»Mach dir um mich keine Gedanken. Ich habe viel zu lesen.«
»Ach ja, und deine Mutter hat angerufen. Zwei Mal«, erzählte Carly und überreichte Regina ein pinkes Post-it, auf das sie unleserlich mit Markierstift geschmiert hatte.
Bei dem Versuch, die Kosten für den Umzug nach New York einzudämmen, hatte Regina ihr Handy aufgegeben. Das hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass sie für ihre Mutter nicht mehr allzeit erreichbar war. Leider zahlte nun jeder in Reginas Umfeld, der einen Festnetzanschluss besaß, den Preis dafür.
Regina knüllte das Post-it zusammen und steckte es in ihre Tasche.
❊ ❊ ❊
Regina wachte davon auf, dass sich jemand gewaltsam Zutritt zur Wohnung verschaffte. So zumindest klang es für sie. Doch dann erkannte sie, dass es nur das Kopfbrett von Carlys Bett war, das gegen ihre Wand schlug.
Das Ganze wurde untermalt von Stöhnen und Carlys überflüssigem Schrei: »Fick mich!«
Wieder Gestöhne, diesmal männlich. Das Kopfbrett krachte immer fester und schneller gegen die Wand, und die Stimmen klangen eher nach Gewalt als Lust. Dann war es still.
Regina bemerkte, dass ihr Atem schwer ging. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass sie aus dem Schlaf gerissen worden war, oder an der Natur der Geräusche aus dem Nebenzimmer. Es war beunruhigend und erregend zugleich, und das machte ihr mehr zu schaffen als der Umstand, dass sie das Liebesleben ihrer Mitbewohnerin im wahrsten Sinne des Wortes um den Schlaf brachte.
Sie wusste, dass sie in Bezug auf Sex im Rückstand war. In ihrem Alter noch Jungfrau zu sein, war für die meisten unvorstellbar. Aber so war es nun einmal, und es hatte sie auch nie gestört, bis sie nach New York gezogen war und feststellen musste, dass sie sozusagen als Letzte zur Party kam.
Es war nicht so, dass sie plante , niemals Sex zu haben. Sie hatte kein Keuschheitsgelübde abgelegt oder dergleichen. Es hatte sich vielmehr nie eine Gelegenheit ergeben. Ihre Freundinnen zuh Hause meinten, dass sie blind durch die Welt lief – dass es Anwärter gab, die sich gerne mit ihr verabreden würden, wenn sie etwas öfter ausginge oder auch mal etwas unternähme. »Du bist immer so ernst«, klagten sie. Es lag nicht daran, dass Regina sich nicht amüsieren wollte. Sie war sich eben nur schmerzlich bewusst, dass jede durchfeierte Nacht für das Studieren verloren war, dass jeder Typ, in den sie sich verguckte, drohte, sie vom Wesentlichen abzuhalten: Studieren. Lernen. Der Vorbereitung auf die Zukunft.
Lass dich nicht vom Weg abbringen . Das war das Mantra ihrer Mutter. Sie erklärte Regina gerne, dass Jungs nichts als eine Ablenkung waren – »ein bombensicheres Rezept für eine gescheiterte Zukunft«. Ihr war genau das passiert , hatte ihre Mutter sie in ernstem Tonfall gewarnt. Regina kannte die Geschichte in- und auswendig: Ihre Mutter sprach davon, wie sie ihre Träume aufgegeben hatte, um Reginas Vater während seines Architekturstudiums und zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn zu unterstützen – um dann mit Regina schwanger zu werden. »Und dann ist dein Vater gestorben, und ich stand mit allem alleine da. Niemand rechnet mit solchen Notsituationen, Regina. Verlassen kannst du dich einzig und allein nur auf dich selbst.«
Regina sah auf die Uhr. Zwei Uhr morgens. In fünf Stunden klingelte der Wecker.
Lachen, dann wieder ein Stöhnen.
Regina rollte sich auf den Rücken, verzweifelt bemüht, zurück in den Schlaf zu finden. Ihr Nachthemd, ein graues Baumwollding von Old Navy, wickelte sich um ihre Taille. Sie zupfte es los, schob es aber nicht nach unten. Sie streichelte ihren Bauch und versuchte sich zu entspannen und wieder einzuschlafen. Und dann wanderte ihre Hand wie von selbst
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