Zeiten des Verlangens
widmet«, erklärte sie. »Obwohl es nur noch bergab geht, seit wir Brooke Astor verloren haben. Tja, hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Schauen Sie doch mal bei mir im dritten Stock vorbei. Vielleicht haben Sie ja Fragen, und unsere Sloan wird es weiß Gott nicht eilig haben, sie zu beantworten – wenn sie die Antwort überhaupt weiß. Bis dann also – und genießen Sie den Sonnenschein.«
Regina hätte Margaret gerne erzählt, dass sie ihren Abschluss in Archivierung und Konservierung gemacht hatte, aber sie wollte nicht den Eindruck erwecken, auf eine Stelle in diesem Bereich aus zu sein. Doch sie wusste schon jetzt, dass sie lieber mit Margaret Saddle als mit Sloan Caldwell zusammenarbeiten wollte.
Margaret setzte ihren Weg fort, und Regina ließ sich wieder auf den Stufen nieder. Leider vergaß sie dabei die offene Thermoskanne, die hinter ihr stand, und stieß sie um. Milch schwappte auf die Treppe, und der schwere Deckel sprang wie ein Ball davon.
Regina war entsetzt. Sie wusste nicht, was sie zuerst tun sollte – den sich ausbreitenden weißen See stoppen oder den Deckel verfolgen, der mit wachsendem Tempo auf die Fifth Avenue zuhüpfte.
Sie richtete die Thermoskanne auf, um den Milchfluss zu stoppen, dann machte sie sich auf die Jagd nach dem Deckel. Doch sie war noch keine zwei Stufen weit gekommen, als sie einen großen, breitschultrigen Mann sah, der ihn mit einem Handstreich auffing.
Er blickte zu ihr auf. Seine Augen waren von einem dunklen Samtbraun, fast schon schwarz. Als er auf sie zukam, bemerkte sie überrascht, dass ihr Herz klopfte.
»Gehört das Ihnen?« Er hielt ihr den Deckel hin mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht – einem Gesicht, das auf seine markante Art so schön war, dass es Regina fast Angst machte. Er hatte hohe Wangenknochen, eine ausdrucksvolle Nase und ein winziges Grübchen im Kinn. Sein Haar glänzte schwarz und war lang genug, dass es sich auf dem weißen Hemdkragen kräuselte. Er war älter als sie, vielleicht dreißig.
»Äh, ja – tut mir leid. Danke.« Obwohl sie eine Stufe über ihm stand, überragte er sie.
»Kein Grund, sich zu entschuldigen. Obwohl, jetzt wo ich die Sauerei da oben sehe … vielleicht doch.«
Zutiefst beschämt folgte sie seinem Blick zu der Milchpfütze.
»Oh, ich … das wische ich weg. So etwas würde ich niemals einfach …«
Doch sein Grinsen verriet, dass er sie aufgezogen hatte. »Kein Problem«, meinte er und gab ihr den schwarzen Plastikverschluss zurück. Dabei streiften sie seine Finger, und bei der Berührung wurde ihr tatsächlich heiß.
Und dann ging er an ihr vorbei, vorbei an der Milchlache, und verschwand durch die schwere Eingangstür in die Bibliothek.
❊ ❊ ❊
Regina stieg in den vierten Stock bis zu ihrer Wohnung in der Bank Street, die Tasche schwer von Büchern, an denen sie in der Leihbibliothek gegenüber der Hauptstelle einfach nicht hatte vorbeigehen können.
Sie wohnte in einer kleinen Wohnung in einem malerischen Haus in der coolsten Straße im coolsten Viertel der Stadt. Sie betrachtete es als ihre große Befreiung – nicht nur ihrer kleinkarierten Heimatstadt, sondern auch dem Klammergriff ihrer Mutter entkommen zu sein. Hier in ihrem neuen Zuhause, in einem Viertel, in dem einst literarische Größen wie Willa Cather, Henry James, Edna St. Vincent Millay und Edgar Allan Poe gelebt hatten, war Regina zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich für sich.
Der einzige Makel an diesem sonst perfekten Umfeld ihrer neu gefundenen Freiheit war ihre Wohnungsgenossin Carly. Carly Ronak war eine superhippe Studentin an der Parsons New School for Design, für die nur zwei Dinge zählten: Mode und Männer. Und die Männer wechselte sie öfter als die Jeans. Es schien, als hätte sie jede Woche einen neuen Kerl.
Regina hatte noch nie eine Mitbewohnerin gehabt. Während ihres Studiums hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass sie zu Hause wohnte und nicht in einem der Studentenwohnheime der Drexel University in der Innenstadt von Philadelphia – zwanzig Minuten Fahrt von ihrem Haus in der Vorstadt entfernt. Jetzt, wo sie mit Carly zusammenwohnte, wurde ihr allmählich klar, dass ihre Mutter in den vergangenen Jahren vielleicht zu viel Einfluss auf ihr Sozialleben genommen hatte. Nachdem sie nun täglich Zeugin von Carlys turbulentem Liebesleben wurde, fragte sich Regina unwillkürlich, warum sie diesem Bereich ihres Lebens bislang so wenig Bedeutung geschenkt hatte. Zum Teil lag es an ihrer Mutter – sie
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