Zeiten des Verlangens
war so strikt dagegen, dass sich Regina mit Jungs traf, dass heimliche Verabredungen kaum der Mühe wert schienen. Die wenigen Dates, auf die sich Regina eingelassen hatte, waren noch dazu so enttäuschend gewesen, dass sie die Lügen und den Streit mit ihrer Mutter nicht lohnten. Doch jetzt fragte sich Regina, ob sie vielleicht etwas verpasst hatte.
Was Carly betraf, so brauchte Regina ein paar Wochen um herauszufinden, warum sie sich überhaupt mit einer Mitbewohnerin abgab. Ihr schienen unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung zu stehen, zumindest, was ihr Outfit betraf. Taschen und Kleidung von Barneys, Alice and Olivia und Scoop waren allgegenwärtig in dieser Wohnung. Regina verstand nicht viel von diesen Dingen, aber sie wusste, dass diese Läden etwas ganz anderes waren als Filene’s oder Target, wo sie alle ihre Einkäufe tätigte. Und dann waren da noch Carlys permanente Friseurbesuche zur Perfektionierung ihres langen, gesträhnten Haars und das ständige Essengehen. Zu Hause sah man Carly höchstens sich eine Schale Cornflakes zuzubereiten. Und wenn Carly tatsächlich einmal am Wochenende in ihrer eigenen Wohnung aufwachte, ließ sie sich sogar Rühreier an die Tür liefern.
Das Rätsel löste sich, als Regina eines Morgens um zwei davon geweckt wurde, dass Carly und ihr neuester Aufriss es in der Küche trieben. Carly ermahnte den Kerl wegen seines lauten Gestöhnes (das Regina schon vor einer Stunde geweckt hatte). »Meine Mitbewohnerin wird ein Trauma davontragen«, hatte Carly geklagt. Worauf der Kerl antwortete: »Ich verstehe gar nicht, warum du eine Mitbewohnerin hast. Dein Papa ist Mark Ronak.« Carly erklärte ihm, dass es nicht wegen des Geldes war. Ihre Eltern bestanden aus »Sicherheitsgründen« auf einer Mitbewohnerin. Sie hatten beide darüber gelacht, und der Kerl hatte gesagt: »Nur gut, dass jemand hier ist und auf dich aufpasst. Sonst würdest du am Ende schlimme Sachen machen.«
Natürlich hatte Regina Mark Ronak gegoogelt und auf diese Weise erfahren, dass Carlys Vater Gründer des größten Hip-Hop-Plattenlabels des Landes war. Diese kleine Information hatte den Graben zwischen Regina und ihrer Mitbewohnerin noch weiter vertieft. Die Vorstellung, einer ihrer Eltern könnte Hip-Hop – selbst schon Pop – hören, war schlicht undenkbar. Reginas Vater war zum Zeitpunkt ihrer Geburt Mitte dreißig gewesen und acht Jahre später gestorben. Er war Architekt gewesen und hatte ausschließlich Opern gehört. Reginas Mutter war Cellistin mit klassischer Ausbildung. Sie hörte nur klassische Musik und bestand darauf, dass auch Regina ausschließlich Klassik hörte, solange sie in ihrem Haus war. Alice Finch arbeitete als Dozentin am Philadelphia Museum of Art, und wenn man sie fragte, gab es außer der Klassik keine weiteren akzeptablen Richtungen in der Musik, der Kunst und der Literatur: In ihrem Haushalt hatte Musik nicht »Pop«, Kunst nicht »modern« und Literatur nicht »trivial« zu sein.
»Wie war dein erster Tag?«, erkundigte sich Carly und blickte von der W auf, in der sie blätterte. Sie saß im Schneidersitz auf der Couch, ihre Schlaghose war exakt im richtigen Maße ausgewaschen, ihr Kaschmirpulli bauchfrei, und das haferblonde Haar hatte sie zu einem unordentlichen Knoten gebunden. »Waren die anderen Bibliothekarinnen auch hübsch lieb zu dir?« Der Raum roch nach ihrem Chanel Allure.
»Es war in Ordnung, danke«, sagte Regina, ließ ihre schwere Tasche zu Boden gleiten und ging in die Küche, um sich eine Cola zu holen. Sie war sich nie so ganz sicher, ob Carly ehrlich an einem Gespräch mit ihr interessiert war, oder ob es nur ein Reflex war, weil außer ihr niemand im Raum war. Ihr war bewusst, dass Carly nicht verstand, dass »Bücher einräumen« – wie sie es nannte – die Erfüllung eines lebenslangen Traums sein konnte. Aber genau das war es für Regina. Seit ihrem sechsten Lebensjahr, als ihr Vater anfing, sie jeden Samstagnachmittag mit in die Bibliothek zu nehmen – und das war nicht einmal die New York Public Library gewesen, sondern die kleine Bibliothek in Gladwell in Pennsylvania –, hatte Regina ihre Bestimmung gekannt. Bei ihr hatte es nie eine Phase gegeben, in der sie Lehrerin, Tierärztin oder Ballerina werden wollte. Regina träumte schon immer davon, Bibliothekarin zu sein. Sie wollte umgeben sein vom Geruch der Bücher, sie wollte verantwortlich sein für die Reihen geordneter Regale, für die akribische Katalogisierung. Sie wollte
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