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Zeiten des Verlangens

Zeiten des Verlangens

Titel: Zeiten des Verlangens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Logan Belle
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»Die Körperfresser kommen«. Sie ging beinahe als Angehörige der Spezies durch, doch der aufmerksame Beobachter bemerkte ihr Anderssein.
    »Und das ist das Herzstück der Bibliothek, der Hauptlesesaal.«
    Reginas Vater war oft geschäftlich nach New York gereist und hatte sie häufig mitgenommen. Zu ihrem gemeinsamen Ritual gehörte, zusammen mit dem Zug nach New York zu fahren, im Serendipity Mittag zu essen und der New York Public Library an der Fifth Avenue einen Besuch abzustatten. Bis heute weckte der leicht muffige Geruch des Rose-Lesesaals so unvermittelt und überwältigend die Erinnerung an ihren Vater, dass sie sich kurz davon erholen musste.
    Regina hielt inne, um die Inschrift über der Tür zu lesen. Es war ein Zitat aus Miltons Areopagitica von 1644 , ein Protest gegen die damals herrschende Zensur: Ein gutes Buch ist der teure Lebenssaft eines erhabenen Geistes, einbalsamiert und gehegt wie ein Schatz für ein Leben über das Leben hinaus.
    Der Saal bot einen erhebenden Anblick. Allein seine Größe überwältigte Regina jedes Mal aufs Neue. Die Decke war über fünfzehn Meter hoch und damit nur drei Meter niedriger als diese eleganten New Yorker Stadthäuser. Mit fast fünfundzwanzig Metern Breite und knappen hundert Metern Länge entsprach der Saal in etwa der Länge von zwei Häuserblocks. Das Sonnenlicht flutete durch riesige rundbogige Fenster und beleuchtete die Decke, einen Wolkenhimmel gemalt von Yohannes Aynalem, eingerahmt von prächtiger Holztäfelung und vergoldeten Schnitzereien mit Engeln, Delphinen und Schriftrollen. Am besten jedoch gefielen Regina die vierfach gestuften Leuchter aus dunklem Holz und Messing, wo Teufelsfratzen zwischen Glühbirnen hervorlugten.
    An der Ausleihe machte Sloan halt. Es war mehr als ein Ausgabeschalter. In der Mitte spannte sich ein reich verzierter Holzeinbau über die ganze Breite des Saales – sozusagen die Kommandozentrale. Es gab elf Schalter mit rundbogigen Fenstern, voneinander getrennt durch römisch - dorische Säulen.
    Sloan lehnte sich an eine der Buchten. »Hier ist es also: Ihr neues Zuhause.«
    Regina stutzte. »Ich arbeite an der Ausleihe?«
    »Ja«, sagte Sloan.
    »Aber … ich habe einen Abschluss in Archivierung und Konservierung.«
    Sloan musterte sie kritisch, eine perfekt manikürte Hand in die Hüfte gestemmt. »Nur nicht so ungeduldig. Sie sind intelligent, aber das waren alle Bewerber auf diese Stelle. Sie werden sich Ihren Weg nach oben erarbeiten wie jeder andere auch. Außerdem hat die Bibliothek bereits jemanden für das Archiv – Margaret. Haben Sie Margaret schon kennengelernt? Sie ist selbst sehr gut konserviert. Ich glaube, sie arbeitet hier seit der Grundsteinlegung.«
    Regina wurde es ganz anders. Die Arbeit an der Ausleihe war nicht besonders anspruchsvoll. Das hieß, sie würde am Schalter sitzen, die Anforderungsscheine der Leute entgegennehmen, ihre Angaben in den Computer eingeben und warten, bis jemand die Bücher aus den verschiedenen Räumen und Stockwerken geholt hatte, um sie dann den Besuchern auszuhändigen, die mit den entsprechenden Nummern an einem Tisch warteten.
    Regina versuchte, nicht in Panik zu geraten. Jeder musste irgendwo anfangen, sagte sie sich. Und es hätte schlimmer kommen können: Es gab auch noch die Rückgabestelle.
    Entscheidend war, dass sie endlich hier war – endlich war sie Bibliothekarin. Und sie würde zeigen, dass sie das Zeug dazu hatte.

2
    Regina nahm ihre Brotzeittüte und setzte sich auf die Stufen vor der Bibliothek. Sie schraubte ihre Thermoskanne mit Milch auf und blickte auf die Fifth Avenue hinaus.
    »Sind Sie die neue Bibliothekarin?«, erkundigte sich eine ältere Frau, die die Treppe heruntergekommen und stehen geblieben war.
    »Ja, ich bin Regina«, bestätigte Regina und hielt sich die Hand vor den Mund, weil sie kaute.
    »Willkommen. Ich bin Margaret Saddle.«
    Es war Regina unangenehm zu sitzen, während ihr Gegenüber stand, also stand sie auf und strich ihren Plisseerock glatt.
    »Ach ja, Sie sind für das Archiv zuständig, nicht wahr?«
    Margaret nickte. »Und das schon seit fünfzig Jahren.«
    »Wow, das ist … beeindruckend.«
    Margaret hatte kinnlanges weißes Haar und hellblaue Augen. Ihre Wangen waren gepudert, davon abgesehen war sie ungeschminkt. Sie trug eine Kette mit riesigen Perlen, und Regina vermutete, dass sie echt waren.
    Die Frau wandte sich nach der Bibliothek um. »Ein solcher Ort ist es wert, dass man ihm seine gesamte berufliche Karriere

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