Zeitenlos
Revue passieren ließ. Ich versuchte genau herauszufinden, was schiefgegangen war.
Zwanzig Minuten zurückzudenken würden nicht ausreichen, das war mir ziemlich schnell klar. Sein Gesichtsausdruck war schon beim Eintreten distanziert gewesen. Ich hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte, es aber ignoriert.
Plötzlich traf mich die Realität mit solcher Wucht, dass es mir die Kehle zuschnürte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber es war wirklich passiert. Er war fort. Was auch immer geschehen war, was auch immer diese Veränderung in ihm hervorgerufen hatte, es war geschehen, bevor er mein Zimmer betreten hatte. Er war mit dem Vorsatz gekommen, Schluss zu machen. Ich blinzelte, aber mit dieser Einsicht kamen die ersten Tränen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, brannten meine Augen. Ich musste buchstäblich jede Träne geweint haben, die ich in mir hatte, denn meine Augen waren trocken und entzündet. Ich drehte mich auf die Seite und zog das Kopfkissen übers Gesicht, um jeden Gedanken auszublenden. Die Erinnerungen an den Vorabend wollten nicht verschwinden. Ich dachte an die Schmetterlinge in meinem Bauch, als ich mich gegen seinen Rücken gelehnt hatte. Ich spürte die Wärme, die ich empfunden hatte, als ich meine Arme um seine Hüften schlang. Und dann war da dieser Urknall, der mein Herz herausgerissen und mich in einen dunklen Abgrund gestürzt hatte. Ich fühlte mich völlig leer und zu nicht mehr in der Lage, außer mich so klein wie möglich zusammenzurollen, das Kissen immer noch auf dem Kopf. Ich weinte nicht. Ob das damit zu tun hatte, dass weinen und wütend sein nicht zueinander passten, weiß ich nicht.
Was passiert war, hatte mich völlig unvorbereitet getroffen. Wir waren seit fast fünf Monaten zusammen. Ich sah ihn so gut wie jeden Tag. Er hatte mir die Augen für Dinge geöffnet, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Niemand auf der ganzen Welt war wie er. So umwerfend. So atemberaubend. Jemanden wie ihn würde ich niemals wiederfinden. Und das war’s dann. Auf die Wut folgten wieder die Tränen.
Ich musste bestimmt zwei Stunden geheult und zwei weitere Stunden geschlafen haben, denn als ich aufwachte, war es schon Mittag. Ich hatte nichts gegessen, und mir knurrte der Magen. Ich blinzelte in dem Sonnenlicht, und meine Augen brannten noch mehr. Dann setzte ich mich auf und wartete darauf, dass das Blut wieder bis in den Kopf zirkulierte. Als ich das Gefühl hatte, dass mein Kopf wieder zu mir gehörte, ging ich ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen. Mein Anblick im Spiegel war nicht schön.
Meine Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. Die oben auf dem Kopf nach rechts und links, die am Hinterkopf gerade weg. Am meisten schockierten mich aber meine blutunterlaufenen Augen und die roten Ringe darunter.
Mich in einem solchen Zustand zu sehen machte mich wütend. Ich putzte mir die Zähne, ohne einen weiteren Blick in den Spiegel zu werfen. Dann wischte ich mir mit einem Handtuch den Mund ab und ging nach unten, um etwas zu essen.
Ich langte nach einer Schale, der Milch, einem Löffel und der Cornflakes-Schachtel, ließ mich am Tisch auf einen Stuhl fallen und begann zu essen. Mist, dachte ich. Es ist Montag, und Mama hat heute frei . Wäre ich in der Lage gewesen, zusammenhängend zu denken, wäre ich trotz des Hungers in meinem Zimmer geblieben, aber es war zu spät. Kaum hatte ich an sie gedacht, bog sie auch schon um die Ecke.
»Hallo, Süße«, sagte sie, als sie in die Küche kam.
»Hi.« Ich nahm einen Löffel Cornflakes und hielt den Kopf gesenkt, damit es so aussah, als wäre ich zu sehr mit meinem Frühstück beschäftigt, um reden zu können.
»Du siehst schrecklich aus«, sagte sie.
»Danke.«
»Ehrlich. Sieh mich an!«
Mir war der Appetit vergangen. Mit gesenktem Kopf griff ich nach meiner Müslischale und ging zur Spüle. »Nein, mir geht es gut.«
»Sophie, ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass es dir nicht gut geht. Ich bin deine Mutter, verstehst du. Du kannst mir zumindest erzählen, was dich bedrückt. Ich werde auch nicht weiter nachhaken.«
»Tust du aber gerade«, stellte ich fest, als ich die Milch wegstellte.
»Sag mir, was passiert ist.«
»Okay, Wes hat gestern Schluss gemacht. Reicht das?«
»Oh!«, sagte sie und nickte verständnisvoll. »Möchtest du darüber reden?«
»Nein«, erwiderte ich und verließ die Küche im Eiltempo.
»Selbst schuld!«, rief sie mir hinterher. »Ihm ist gar nicht klar, was er
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