Zeitenlos
Brustkorb und seine Armmuskeln anspannten und er unruhig wurde.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er.
Ob ich einfach zu müde war, um über diese ungewisse Zukunft nachzudenken oder zu besorgt, jedenfalls sprach keiner von uns das Thema mehr an. Stattdessen senkte sich Stille über uns, und irgendwann nickte ich ein.
Wes musste mich nach oben getragen haben, denn das Nächste, woran ich mich erinnerte, war der herrliche Sonnenaufgang vor seinem Schlafzimmerfenster. Die Frage vom Vorabend hatte ich immer noch irgendwo im Hinterkopf, aber im Vergleich zu den restlichen Erinnerungen an die Nacht war sie kaum der Rede wert.
Kapitel 12
Die Wende
W es besuchte an diesem Wochenende ein Autorennen, sodass wir uns einige Tage nicht sehen würden. Das passte mir ganz gut, weil ich für die Zwischenprüfungen lernen musste und die Zeit wirklich brauchen konnte.
Außerdem stand ein Englischaufsatz auf dem Stundenplan. Normalerweise war das nicht so mein Ding, aber diesmal freute ich mich darauf. Nicht, dass ich nicht gerne schreibe, ganz im Gegenteil. Das Problem lag darin, meine Meinung zu vertreten, ohne dabei allzu überheblich zu klingen. Unsere Lehrer behaupten immer, dass sie Schüler mit einer eigenen Meinung schätzen, aber wenn wir die dann haben und mitteilen, ist es reine Glückssache, wie die Note ausfällt. Lehrer sind unberechenbar; manchmal mögen sie begeistert sein, manchmal kommt es vor, dass sie sagen, alles sei falsch. Ich hatte meine Aufsätze daher immer mit einer gehörigen Portion Skepsis abgegeben, aber in einer Online-Schule funktionierte das System anders.
Mir gefiel das virtuelle Schüler-Lehrer-Verhältnis. Ich musste den Lehrer nicht ansehen, wenn ich eine Arbeit abgab; besser noch, mir blieb der Kommentar bei der Rückgabe erspart. Ich verschickte alles übers Internet und brauchte nicht darüber nachzudenken, wie die Arbeit auf der anderen Seite ankam. Das war super, und deshalb wollte ich mit diesem Aufsatz ein Zeichen setzen.
Das Thema war ein Motiv aus Othello. Wir sollten ein sich wiederholendes Thema oder Element aus dem Stück aufgreifen und darüber eine schlüssige Erörterung schreiben und deren Thesen beweisen. Super, dachte ich. Ich entschied mich für das Thema Blindheit. Natürlich war mir klar, dass es im Zusammenhang mit Othello in erster Linie um militärische Verdienste, um Einfältigkeit und Eifersucht ging, aber ich musste immer daran denken, dass Othellos Blindheit gegenüber der Realität ihn Dinge sehen ließ, die gar nicht da waren.
Da ich keine Ahnung hatte, wo ich anfangen sollte, drehte ich einige Runden auf dem Schreibtischstuhl, bis ich schließlich nach meiner Othello- Ausgabe griff, die auf dem Bett lag. Ich dachte darüber nach, wie schnell Othello doch den Menschen in seiner Umgebung misstraute, weil er Lügen und Gerüchten glauben schenkte. Gerade blätterte ich das Buch auf der Suche nach einem passenden Zitat durch, als es klopfte. Zuerst bekam ich einen Schreck, weil ich nicht mit Wes gerechnet hatte, doch bei seinem Anblick ging es mir gleich wieder besser. Damit uns niemand sehen konnte, machte ich meine Schreibtischlampe aus, bevor ich die Tür öffnete.
»Hallo, was machst du denn hier?«, begrüßte ich ihn fröhlich.
»Ich muss mit dir reden.« Er warf einen Blick auf meinen dunklen Bildschirm. »Lernst du gerade?«
»Ja, aber ich höre jetzt auf und mache morgen weiter. Kein Problem.« Seine Anwesenheit brachte mich aus dem Konzept. Ich merkte, wie sehr er mir gefehlt hatte und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen; er neigte sich im Dunkeln gerade weit genug herab, um den Kuss zu erwidern.
»Worum geht’s?«, fragte er und langte nach dem Buch.
»Ein Aufsatz über Othello«, antwortete ich und ließ mich auf mein Bett fallen. »Ich werde darüber schreiben, wie dumm er war. Also, ich meine nicht dumm im eigentlichen Sinn, sondern … blind.«
»Othello war nicht blind«, erwiderte Wes. Er saß am Fußende und blätterte das Buch durch. »Ich glaube, dass er von Anfang an alles sehr klar gesehen hat.«
»Du meinst, er wusste, dass er Desdemona töten würde?«
»Nein , das hatte er wohl nicht vorhergesehen. In meinen Augen wusste er von Anfang an, dass die wahre Liebe für ihn unerreichbar sein würde. Unterbewusst war ihm klar, dass ihr Liebesglück zu schön war, um wahr zu sein.«
»Interessant, aber das ist doch genau das, was ich meinte. Er war blind. Und es war absehbar.«
»Du bist immer so positiv, wenn es um
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