Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
nicht«, sagte Sebastiano ärgerlich.
»Es wird Zeit«, mahnte José. Er blickte zum Himmel. Der Mond stand voll und rund über den hohen Dächern. Casanova kletterte auf die Schaluppe und winkte uns nach. Ich winkte zurück, bis wir ihn nicht mehr sehen konnten, während die Gondel zügig weiterglitt und in den Canal Grande einbog. Am Ufer waren ein paar Leute unterwegs, und auch vereinzelte Gondeln zogen auf dem Kanal ihre Bahnen. Wir waren nicht allein, doch das machte nichts. Das Portal war das größte und stärkste in Venedig. Es war nicht nur unsichtbar, sondern tarnte auch den gesamten Vorgang der Zeitreise. Niemand würde unseren Übertritt bemerken. Die Leute wunderten sich vielleicht flüchtig, weil unsere Gondel nicht vorschriftsmäßig schwarz war, sondern rot. Aber einen Augenblick später würden sie es bereits vergessen haben.
»Es geht los«, sagte José, während wir auf den Kai zuhielten, zu der Stelle, wo wir nachher aussteigen würden. In mehr als zweihundertfünfzig Jahren. Sebastiano umarmte mich fest, während ich bereits das Flimmern um die Gondel herum aufsteigen sah, wie eine feine Linie aus grellem Licht, die immer breiter wurde.
»Du warst toll heute Nacht«, murmelte Sebastiano mir ins Ohr. »Habe ich dir schon gesagt, dass ich verrückt nach dir bin?«
»In diesem Jahrhundert noch nicht.«
Das Flimmern umgab das ganze Boot, die Luft war wie aufgeladen. Das Licht wurde blendend hell, ich musste die Augen zusammenkneifen. Schreckliche Kälte breitete sich in mir aus. Vor dieser Kälte hatte ich immer die meiste Angst. So musste sich der Tod anfühlen. Vibrationen erfassten das Boot, sie steigerten sich zu einem Rütteln und dann zu einem schlingernden Auf und Ab, man kam sich vor wie auf einer Achterbahn. Sebastiano küsste mich leidenschaftlich, und ich klammerte mich an ihn, um nicht in den Abgrund zu stürzen. Der donnernde Knall kam nicht unerwartet, aber trotzdem hatte ich auch diesmal wieder das Gefühl, als würde mein Körper explodieren und sich in Myriaden von Splittern über das ganze Universum verteilen. Ich konnte nichts mehr spüren, nicht mal mehr Sebastiano.
Und im nächsten Augenblick wurde alles um mich herum von absoluter Dunkelheit verschluckt.
Venedig, 2011
N
iemand sah unsere Gondel auftauchen, wir waren einfach auf einmal da – in derselben Sekunde, in der wir zu unserer Reise in die Vergangenheit aufgebrochen waren, am frühen Abend und mitten im Karneval. Auf dem Balkon eines Palazzos stand eine Frau mit einer Harlekinmaske und trötete in eine Vuvuzela – genau dasselbe hatte sie bei unserer Abreise ins Jahr 1756 gemacht. Der Mann am Kai, der gerade seine Kamera gezückt hatte, schoss immer noch Fotos von seinem Kind, das als Löwe verkleidet war und Konfetti aufs Wasser warf. Es schien, als wären wir überhaupt nicht weg gewesen. Das war die Magie der roten Gondel. Die Zeit in der Gegenwart blieb sozusagen stehen, egal, wie lange man in der Vergangenheit gewesen war. Am Ufer herrschte dasselbe Gewimmel wie bei unserem Aufbruch. Überall wurde an diesem Faschingsdienstag gefeiert.
José ließ uns am Anleger aussteigen und tippte zum Abschied an seinen Hut, bevor er wieder losruderte und gleich darauf mitsamt der Gondel im Kielwasser eines vorbeituckernden Vaporettos verschwand. Außer mir und Sebastiano bemerkte es niemand.
Er schlang beide Arme um mich. »Da sind wir wieder.« Dann küsste er mich. »Party?«
»Party«, stimmte ich zu.
Aber vorher schauten wir noch bei Sebastianos Vater Giorgio vorbei, der ganz in der Nähe wohnte. Er begrüßte mich überschwänglich, bewunderte unsere stilechte historische Kostümierung und bestand darauf, dass wir zum Essen blieben, bevor wir uns in den Trubel stürzten. Seine Freundin war auch da, eine etwas zu stark geschminkte Blondine namens Carlotta, die uns tausend Fragen stellte. Sebastiano erklärte, dass wir leider keine Zeit hätten und weitermüssten. Seine Mutter war vor vier Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen, aber er hatte sich immer noch nicht richtig daran gewöhnt, dass sein Vater wieder eine Freundin hatte. Carlotta war beleidigt, dass wir so schnell wieder abzogen, denn wir ließen uns nicht besonders oft dort blicken. Doch Giorgio nahm es uns nicht übel und umarmte uns herzlich zum Abschied.
»Feiert schön!«, rief er uns nach.
»Machen wir!«, rief Sebastiano zurück.
Auf der Piazza war die Hölle los. Wir sahen alle Masken der Commedia dell’arte in zig Variationen
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