Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
Rückblickend wurde er zu einer Art Assistent, der zufällig auf dem Dach rumgehangen hatte, als es losging. Leider verdarb das meinen guten ersten Eindruck von Casanova ein bisschen, er schien ein ziemlicher Angeber zu sein. Aber dann sah ich, dass seine Hände, die er immer noch in sein nasses Hosenbein krampfte, fast so schlimm zitterten wie meine. Und ich konnte jetzt auch erkennen, wie sehr er körperlich unter der Haft gelitten hatte. Er war zu dünn für seine Größe, seine Haut wies eine ungesunde Blässe auf und war von Flohbissen übersät. In dem Buch, das er über seine Flucht geschrieben hatte – oder genauer: in vielen Jahren schreiben würde –, war auch von Ratten die Rede gewesen. Die fünfzehn Monate in diesem grauenhaften Loch mussten die Hölle gewesen sein. Mit dem ganzen prahlerischen Gehabe wollte er bloß überspielen, dass er total am Ende war. Und dafür, das musste man ihm wirklich lassen, hatte er sich unglaublich gut geschlagen.
José lenkte die Gondel mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Nacht. Vor uns tauchte die Spitze der Giudecca auf, und ich erinnerte mich zwangsläufig an den gruseligen Schlussakt meines ersten Zeitreise-Abenteuers im Jahr 1499. Doch diesmal bogen wir weit vor der Giudecca rechts ab und fuhren an der Südseite Dorsoduros entlang. Auch hier war das Ufer in unregelmäßigen Abständen von Fackeln erleuchtet. Ein paar angetrunkene Gecken mit Dreispitzhüten, Kniehosen und Schnallenschuhen kamen aus einem pompösen Palazzo und winkten uns fröhlich zu. Vor einer Kirche stapften zwei Wachmänner vorbei, und Casanova zog hastig den Kopf ein, bis José rechterhand in einen anderen Kanal einbog. Jetzt war es nicht mehr weit. Wie immer vor einem Zeitsprung erfasste mich Aufregung. Bis jetzt war es jedes Mal gut gegangen, aber ich vergaß nie, was Sebastiano zu Beginn unserer Beziehung einmal zu mir gesagt hatte. Es kommt vor, dass Reisende ganz einfach verschwinden.
Trotzdem freute ich mich auf die Gegenwart und den Karneval, zu dem wir gleich zurückkehren würden. Wir mussten bloß noch Casanova absetzen. Das Boot, das ihn aufs Festland bringen sollte, wartete in der dunklen Einmündung zum Canal Grande. Es war eine Schaluppe mit Zwei-Mann-Besatzung. Einem der beiden gehörte das Boot, er hatte sich diese Fahrt fürstlich von Sebastiano bezahlen lassen. Der andere würde dafür sorgen, dass Casanova mit dem Nötigsten versorgt wurde und sicher weiterreisen konnte. Er war der hiesige Bote – so hießen die Helfer von uns Zeitwächtern. Sie lebten in der jeweiligen Epoche und waren unter anderem für die Ausstattung mit Kleidung und für die Unterbringung zuständig. Deshalb waren sie weitgehend in alle Vorgänge eingeweiht, auch wenn wir ihnen wegen der Sperre nichts über die Zukunft erzählen konnten.
Casanova konnte sein Glück nicht fassen, er wollte andauernd wissen, warum wir das alles für ihn taten.
»Vielleicht habt Ihr ja einen edlen Gönner«, meinte Sebastiano schließlich entnervt.
Von dieser Idee war Casanova spontan begeistert.
»War es Bragadin?«, wollte er wissen. »Ganz bestimmt war er es! Ich wusste, dass mein alter Freund mich nicht im Stich lässt!«
»Am besten vergesst Ihr einfach, dass Ihr Hilfe von außen hattet«, empfahl ihm Sebastiano.
»Ich werde über Eure Rolle schweigen wie ein Grab, das schwöre ich bei meinem Leben! Aber sagt mir nur, wer Euch schickte!«
»Steigt in das Boot und geht auf die Reise«, schlug ich vor. »Irgendwann findet Ihr selbst heraus, wem Ihr die Freiheit verdankt.«
Oder auch nicht, fügte ich in Gedanken bedauernd hinzu, denn er würde es nie erfahren. Casanova würde immer auf der Suche nach dem großen Gönner bleiben. Er würde kreuz und quer durch Europa ziehen und erlauchte Persönlichkeiten an diversen Königshöfen kennenlernen. Er würde sich verlieben, verschulden, spielen, lügen und betrügen und als größter Frauenverführer aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Und in vielen Jahren würde er über die Flucht aus den Bleikammern ein unterhaltsames Buch schreiben. Sebastiano und ich würden nicht darin vorkommen, hier würde Casanova Wort halten. Und das war auch gut so, denn unsere Arbeit sollte ja geheim bleiben.
»Lebt wohl, meine Freunde«, sagte Casanova. Sebastiano bedachte er nur mit einem Nicken, aber von mir konnte er sich nur schlecht trennen. Er nahm meine Hand und bedeckte sie mit Küssen. »Ich werde Euch nie vergessen, schöne Anna!«
»Das glaub ich jetzt gerade
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