Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
Mathe kassiert hatte, was ziemlich oft vorgekommen war.
»Na ja«, meinte Sebastiano. »Du hast dieses Nackenjucken. Das ist eine tolle Begabung, die hat sonst kein Mensch auf der Welt.«
»Klar«, sagte ich verdrossen. »Ich sollte mich damit selbstständig machen.«
Sebastiano grinste. »Du wirst schon einen schönen Beruf finden. Erst mal schreibst du jetzt in aller Ruhe deine Abi-Klausuren, und dann sehen wir weiter.«
»Erinnere mich nicht daran.«
Wir hatten das Mietshaus erreicht, in dem Sebastiano wohnte. Er schloss die Tür auf und zog mich ins Treppenhaus, wo er mich gegen die Wand drängte und mich küsste, bis mir die Luft wegblieb.
»Das war jetzt dringend nötig«, sagte er hinterher schwer atmend.
»Warum denn?«, fragte ich mit wackligen Knien, während er mich die Treppe zu seiner Wohnung hochzog.
»Um dich auf andere Gedanken zu bringen.«
Das war ihm auf alle Fälle gelungen. Und der Abend hatte erst angefangen. Für den Rest des Tages und die darauffolgende Nacht war mir mein Abi völlig egal.
Frankfurt, 2011
A
cht Tage später sah das wieder ganz anders aus. Ich saß in der Matheklausur und hatte keine Ahnung. Zuerst brütete ich über einer Kurvendiskussion, die sich irgendwie nicht richtig ableiten ließ. Analysis war meine Nemesis, ein Fremdwort, das ich mir nur deshalb gemerkt hatte, weil beides sich aufeinander reimte – es bedeutete so viel wie Schreckgespenst. In Stochastik konnte ich auch nur raten. Die Ergebnisse – immerhin hatte ich welche – kamen mir seltsam vor, aber besser kriegte ich es nicht hin. Zwischendurch tauschte ich immer wieder verzweifelte Blicke mit Vanessa, die drei Tische rechts von mir saß und ähnliche Probleme hatte wie ich. Unsere Mathe-Aversion teilten wir schon seit der Einschulung, das war sozusagen der Grundstein für unsere Freundschaft gewesen. Wir hatten deswegen sogar gemeinsam eine Klasse wiederholen müssen.
Irgendwie brachte ich die Klausur hinter mich und gab sie mit einem mulmigen Gefühl im Magen ab. Vanessa und ich verließen zusammen den Raum. Draußen diskutierten die anderen über die richtigen Lösungen, und nichts davon klang so, als wäre ich jemals damit in Berührung gekommen.
Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten.
»Komm, lass uns abhauen«, sagte Vanessa frustriert. »Dieser ganze Mist war auch so schon schlimm genug. Meldest du dich nachher?«
Ich nickte bloß stumm. Sie drückte mich kurz und ging zu ihrem Auto, während ich mich auf mein Rad schwang.
Zu Hause wartete Papa mit dem Essen auf mich. »Ich hab dir extra Nudelauflauf gemacht, Kind.« Er hatte diese Woche den Innendienst, weil meine Mutter auf einem Kongress in Kopenhagen war. Zwischen seinen Ausgrabungen hielt er Vorlesungen an der Uni, aber mindestens genauso oft war er daheim und gab sich Mühe, während Mamas Abwesenheit Familienstimmung zu verbreiten. Unter anderen Umständen hätte ich mich gefreut, mit ihm zusammen zu Mittag zu essen und zu quatschen, doch heute war mir nicht danach.
»So schlimm?«, fragte er mitfühlend. »Konntest du denn gar keine Aufgabe?«
»Ich hab sie alle gemacht. Das Blöde ist nur – ich hab keine Ahnung, ob ich irgendwas davon richtig habe.«
»Dann ist bestimmt nicht alles falsch«, meinte er sofort tröstend. »Das wäre gegen jede Wahrscheinlichkeit.«
Über Wahrscheinlichkeiten hätte ich ihm viel erzählen können. Aber von meinen Zeitreisen durfte ich meinen Eltern nichts verraten. Niemand wusste etwas davon, nicht mal Vanessa. Sebastiano hatte mir eingeschärft, dass unautorisiertes Wissen für unbeteiligte Personen gefährlich sein konnte. Er selbst hatte in all den Jahren, in denen er den Job machte, noch nie jemandem davon erzählt.
Um Papa einen Gefallen zu tun, aß ich etwas Nudelauflauf. Anschließend verkroch ich mich in meinem Zimmer, schaute bei Facebook rein, telefonierte eine Runde mit Vanessa und versuchte, die Matheklausur zu vergessen. Die beiden LK -Klausuren in Deutsch und Bio waren super gelaufen, immerhin. Jetzt hatte ich das Schriftliche hinter mir und konnte erst mal durchatmen. Am liebsten wäre ich sofort wieder nach Venedig geflogen. Wenn das nur nicht immer so ins Geld gehen würde! Im letzten Jahr hatte ich angefangen, einem Nachbarskind Klavierunterricht zu geben, und verdiente damit nebenher ein bisschen, aber für mehr als einen Flug im Monat reichte es nicht. Und den musste man lange genug im Voraus buchen, sonst kostete es zu viel. Sebastiano verdiente als studentische
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