Zeitfinsternis
zu zerstören, eine Zahl, der jedoch kaum Bedeutung zukam, wenn man sie mit der Zahl von Schirmen verglich, die unbeobachtet blieben, weil zu wenig Leute da waren, um die Arbeit zu übernehmen. Alles wurde nun aufgezeichnet und von Computern beobachtet, aber angeblich war nur ein wirklicher Beobachter in der Lage, frühzeitig genug zu erkennen, daß etwas nicht in Ordnung war.
Das war Geschichte. Was jetzt zu untersuchen war, das war die Affäre mit dem Mädchen aus dem Dorf. Wie kam es, daß Raymond nicht wußte, wer sie war? Das fragte ich ihn auch, sobald ich dort ankam.
„Ich habe noch weitere Nachprüfungen angestellt“, sagte er mir, „und mir die Bänder angesehen, die wir von dem Dorf haben.“ Er drückte auf ein paar Knöpfe. „Jetzt aufpassen.“
Ein großer Wandschirm. Ich paßte auf. Das Bild zeigte in brillanter Farbe eine Frau von ungefähr zwanzig Jahren, die aus der Haustür eines Hauses herauskam und über die Straße ging. Sie verließ den Blickwinkel der Kamera.
„Spulen Sie das zurück“, sagte ich, „und stoppen Sie ihr Bild.“
Ich wußte schon, daß sie der Vorwand für die Schlacht gewesen war, der Grund dafür war nicht schwer zu erkennen. Wie die meisten anderen Bauersfrauen trug sie einen Rock aus schwerem, ausgefranstem Stoff und eine schlecht geschnittene Bluse von unbestimmbarer Farbe. Hüften, Beine, Brüste: Die Kleider schienen sich an jede ihrer Kurven anzuschmiegen. Diese normalerweise eher langweilige Kleidung wurde durch ihre Figur zu einem aufregenden Ereignis. Langes rotes Haar, nackte Füße, ein unglaublich hübsches Gesicht. Eine bemerkenswerte Kombination physischer Attraktionen.
„Sehr attraktiv“, kommentierte ich. „Und das ist sie?“
„Das muß sie sein“, sagte Raymond. „Ich weiß aber immer noch nicht, wer sie ist.“
„Warum nicht? Sie ist doch da, oder nicht?“
„Sie ist keine von den Dorfbewohnern. Vor ein paar Wochen ist sie auf einmal aufgetaucht, und ein paar Tage später ist sie von Soldaten aus Lothringen entführt worden.“
„Wer ist sie also?“
„Niemand. Über sie existiert in ganz Europa nirgends auch nur die geringste Aufzeichnung. Niemand, auf den ihre Beschreibung paßt, ist nicht da, wo er sein sollte.“
„Sind Sie da sicher?“
„Ja.“
„Absolut?“
„Hundertprozentig.“
Ich runzelte die Stirn. „Das kann nicht sein. Was hat das zu bedeuten?“
„Das bedeutet“, sagte Raymond, „daß es diese Person nicht gibt. Sie existiert nicht.“
Vielleicht täuscht er sich – und diese Möglichkeit überrascht ihn weder, noch ärgert sie ihn –, aber es scheint so, als sei sein Geist viel freier als früher. Er ist in der Lage, mehr als ein paar Sekunden hintereinander nachzudenken, und seine Gedanken entgleiten und entkommen ihm nicht mehr ganz so oft wie früher. Wie: Schreib es auf.
Und je mehr er darüber nachdenkt, desto mehr Angst macht es ihm. Er wird vermutlich noch in einem weitaus größeren Maß benutzt, als er das vorher angenommen hatte: um die Zukunft zu verändern.
Wenn sein Geist freier ist, trifft das auch für seinen Körper zu? M ASCHINE zufolge wird er nun schon bald die Frau von der Oberfläche sehen. Persönlich sehen. Ist das wahr? Oder lügt M ASCHINE ihn wieder an?
Möglicherweise lügt M ASCHINE ja nicht, und es ist nur sein eigener Geist, der ihm Streiche spielt. Es gibt so viele Möglichkeiten; so vieles ist zu bezweifeln. Nicht für M ASCHINE , nur für ihn.
Als ich nach Hause kam, war Sonya nicht da; sie hatte ihre Schicht anders gelegt, damit wir unsere dienstfreie Zeit nicht zusammen verbringen brauchten, was sehr rücksichtsvoll von ihr war. Ich wußte nicht, was sie getan hatte, um mich heiraten zu müssen; für mich aber war es ein Teil des Eingewöhnungsprozesses, etwas, was ich tun mußte, als ich wieder unten wohnte. Vielleicht sollte das die Beobachter zufriedenstellen, wenn sie eine Gefährtin bekamen. Für mich hat das so nicht geklappt. Für sie auch nicht. Ich erinnere mich sogar, daß ich damals gedacht habe, daß vielleicht das Gegenteil bezweckt wird und Reibereien, Unzufriedenheit und Desertion bewirkt werden sollen.
Na ja, wie auch immer. Ich starrte an die Decke und dachte darüber nach, was Raymond mir gesagt hatte: Das Mädchen, das Erster wollte, existierte nicht. Kein Wunder, daß er sich so sehr Gedanken gemacht hatte; er hatte jemanden gefunden, der keinen Namen hatte, einen Menschen, dessen Lebensgeschichte nicht in den Akten stand. Er hatte
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